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XII
Bedenkt man allerdings die labyrinthischen Wege, auf denen Aristoteles dem
Geheimnis des Seienden nachzugehen versucht hat, so mag man an der
Tauglichkeit des Seinsbegriffs zu einer Metaphysik überhaupt zweifeln, und
vermuten, daß die Aporien mit dem ursprünglichen sprachlichen Ansatz
selber gegeben sind, das heißt, mit dem Angebot dieses vertrackten Wortes
in den indogermanischen Sprachen.
Die formale Logik tendiert dahin, den Begriff des Seins in mathematische
Verhältniszeichen aufzulösen. Linguistisch erhält das Wort unter den Verben
eine Sonderstellung, indem es, als Kopula, die universale Verbindung
zwischen Subjekt und Prädikat schlechthin wird. Das hat die Nominali-
sierung aller Begriffe zur Folge — ein Vorgang, der in gewisser Weise schon
mit Aristoteles begonnen hat, indem er die verbale Prädikation für ersetzbar
erklärte durch ist, βαδιζων έστι. Kein materieller Unterschied darf nun
bestehn zwischen dem Verb und seiner «periphrastischen» Wiedergabe. In
der nominalisierten Form werden die Begriffe einsetzbar in Funktionen,
das Sein dagegen, als der eigentlich «leere» Begriff, wird entbehrlich durch
den Kontext der mathematisierten Verhältnissymbole.
Wenn aber die Metaphysik, als Ontologie, so gänzlich auf ein in der
Sprache Vorbefindliches angewiesen ist, das diese ganz und gar nicht mit
allen Sprachen der Erde teilt: was nützt es noch, den Sinn von sein in
der Frühzeit der Philosophie zu erforschen? Kann es mehr sein als die
historische Bestimmung eines noch primitiven Reflexionsstandes?
Man muß nicht gleich von der Seinsvergessenheit in der neuzeitlichen
Philosophie handeln, wenn man in den skizzierten Wandlungen des Seins-
verständnisses, statt nur den Prozeß der Klärung, auch eine Sinnentleerung
feststellt. Die Geschichte des Seinsbegriffs — wenn man von der Metaphysik
absieht — weist eine fortschreitende Kopulativierung des Wortes auf, bis
zu dem Grade, daß im Deutschen, wie im Englischen, selbst in existentialen
oder identifizierenden Aussagen die Sprache heute — im Unterschied zur
griechischen — den absoluten Gebrauch nicht mehr erträgt und eine schein-
kopulative Konstruktion schafft («es war einmal ein König», «es ist Hermo-
genes»). Umgekehrt rechnet die Sprachwissenschaft mit einer Herkunft des
Wortes sein (und seiner indoeuropäischen Geschwister) von einem Voll-
verbum, dessen Bedeutung in der Richtung von leben, dasein gesucht wird.
Ich prüfe nicht, mit welcher Sicherheit diese Bedeutung erschlossen werden
kann. Die große Untersuchung von Charles Kahn (The Verb <be> in Ancient
Greek, Found. of Lang., Supplementary Series, Vol. 6), läuft für das
Griechische darauf hinaus, daß die existentiale Bedeutung mitsamt dem
absoluten Gebrauch von sein (der auch die veritative Bedeutung einschließt)
vielmehr sekundär sei gegenüber einer ursprünglichen kopulativen Ver-
wendung des Verbs. Die Argumentation stützt sich wesentlich auf den Befund
der homerischen Epen, als der ältesten Zeugnisse mit einer breitgefächerten
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Bedenkt man allerdings die labyrinthischen Wege, auf denen Aristoteles dem
Geheimnis des Seienden nachzugehen versucht hat, so mag man an der
Tauglichkeit des Seinsbegriffs zu einer Metaphysik überhaupt zweifeln, und
vermuten, daß die Aporien mit dem ursprünglichen sprachlichen Ansatz
selber gegeben sind, das heißt, mit dem Angebot dieses vertrackten Wortes
in den indogermanischen Sprachen.
Die formale Logik tendiert dahin, den Begriff des Seins in mathematische
Verhältniszeichen aufzulösen. Linguistisch erhält das Wort unter den Verben
eine Sonderstellung, indem es, als Kopula, die universale Verbindung
zwischen Subjekt und Prädikat schlechthin wird. Das hat die Nominali-
sierung aller Begriffe zur Folge — ein Vorgang, der in gewisser Weise schon
mit Aristoteles begonnen hat, indem er die verbale Prädikation für ersetzbar
erklärte durch ist, βαδιζων έστι. Kein materieller Unterschied darf nun
bestehn zwischen dem Verb und seiner «periphrastischen» Wiedergabe. In
der nominalisierten Form werden die Begriffe einsetzbar in Funktionen,
das Sein dagegen, als der eigentlich «leere» Begriff, wird entbehrlich durch
den Kontext der mathematisierten Verhältnissymbole.
Wenn aber die Metaphysik, als Ontologie, so gänzlich auf ein in der
Sprache Vorbefindliches angewiesen ist, das diese ganz und gar nicht mit
allen Sprachen der Erde teilt: was nützt es noch, den Sinn von sein in
der Frühzeit der Philosophie zu erforschen? Kann es mehr sein als die
historische Bestimmung eines noch primitiven Reflexionsstandes?
Man muß nicht gleich von der Seinsvergessenheit in der neuzeitlichen
Philosophie handeln, wenn man in den skizzierten Wandlungen des Seins-
verständnisses, statt nur den Prozeß der Klärung, auch eine Sinnentleerung
feststellt. Die Geschichte des Seinsbegriffs — wenn man von der Metaphysik
absieht — weist eine fortschreitende Kopulativierung des Wortes auf, bis
zu dem Grade, daß im Deutschen, wie im Englischen, selbst in existentialen
oder identifizierenden Aussagen die Sprache heute — im Unterschied zur
griechischen — den absoluten Gebrauch nicht mehr erträgt und eine schein-
kopulative Konstruktion schafft («es war einmal ein König», «es ist Hermo-
genes»). Umgekehrt rechnet die Sprachwissenschaft mit einer Herkunft des
Wortes sein (und seiner indoeuropäischen Geschwister) von einem Voll-
verbum, dessen Bedeutung in der Richtung von leben, dasein gesucht wird.
Ich prüfe nicht, mit welcher Sicherheit diese Bedeutung erschlossen werden
kann. Die große Untersuchung von Charles Kahn (The Verb <be> in Ancient
Greek, Found. of Lang., Supplementary Series, Vol. 6), läuft für das
Griechische darauf hinaus, daß die existentiale Bedeutung mitsamt dem
absoluten Gebrauch von sein (der auch die veritative Bedeutung einschließt)
vielmehr sekundär sei gegenüber einer ursprünglichen kopulativen Ver-
wendung des Verbs. Die Argumentation stützt sich wesentlich auf den Befund
der homerischen Epen, als der ältesten Zeugnisse mit einer breitgefächerten