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Hölscher, Uvo; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1976, 3. Abhandlung): Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie: vorgetragen am 6. Februar 1971 — Heidelberg: Winter, 1976

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https://doi.org/10.11588/diglit.45460#0049
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Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie
bewußt, was man noch heute dem Schüler schwer klarmacht, daß Tt Prädikat
ist; ja zuletzt darf man zweifeln, ob mit solcher grammatischen Analyse
der ursprüngliche Sinn der Sprachfigur getroffen ist. Mit Mühe hat Aristo-
teles, wohl überhaupt als erster, das τι, als ein κατηγορούμενον, auf ein (un-
ausgesprochenes) υποκείμενον bezogen und damit die Frage ontologisch in
die Zwiefalt von Substanz und Substrat aufgelöst, Met. 2 17.
Es ist allerdings interessant, daß Aristoteles gerade an dieser Stelle
(1041 b 9) jene andere, nämlich «einfache» "Weise des Seins andeutet, über
die er sich aber nirgends deutlicher äußert: das Sein der «einfachen» Sub-
stanzen. Im Θ 10 allein faßt er es in seinem Verhältnis zu der besonderen
Weise des "Wahrseins, das nicht in der Synthesis des kategorialen Erkennens
besteht. Dem Sein der «einfachen» Substanzen entspricht das einfache «Wahr-
nehmen», «Erkennen» und «Erfassen» des τι έστιν (νοειν, θιγειν); statt der
«Aussage» (καταφασις) das einfache «Zusagen» (φαναι, 1051b 24—52 a 1).
Das trifft formal genau auf das einfache Sein, das wir beschreiben. Aristoteles
allerdings — hier mehr als irgendwo Platoniker — hat, wie es nicht anders
sein kann, die substratlosen, geistigen Substanzen im Auge, und der ganze
Gedanke bleibt in der Bewegung des Fragens.
Gehen wir von der ursprünglichen Einfachheit des τι έστιν aus, so bleibt
das έστιν, in Frage wie in Antwort, gleichwohl wie bei Aristoteles die
reine Aussage eines Wesens, d. h. ein substantiales Sein.
Es muß den vergleichenden Linguisten überlassen bleiben, die Konsequen-
zen für eine indoeuropäische Urbedeutung des Wortstammes *es- zu prüfen.
Für das Griechische muß ich zu dem Schluß kommen, daß είναι in der
Sprache ursprünglich gegeben war als das dem Akt des Erkennens respon-
dierende Zeichen des 'Wirklichseins einer Sache, nicht im Sinne des wirk-
lichen Vorhandenseins, sondern des Wirklich-Dies-seins: έστιν, er ist es.
Damit ist allerdings die Frage nach dem Sinn von Sein aus dem Meta-
physischen ins Anthropologische gewendet. Aber erst auf diesem Wege
erhält die Frage ihre philosophische Bedeutung zurück. Wenn der Ausdruck
des Seins dem Wiedererkennen des Erkannten respondiert, dann gehört er
mit dem ursprünglichen Benennen der Dinge zusammen und reicht so in
die Ursprünge der Sprache zurück. Es ist verständlich, daß nicht jede Sprache
der Erde dies Wort entwickelt hat; aber sein Vorliegen in der Sprache mußte die
Sprechenden zu einem besonderen Erkenntnis-Verhältnis zur Welt disponieren.
Die ursprüngliche Bezogenheit von sein auf Erkennen ist bei Parmenides
unmittelbar erschlossen: «Denn dasselbe kann erkannt werden und sein»
(oder wie andere zu übersetzen vorziehen: «Dasselbe ist Erkennen und
Sein»). In dieser Hinsicht kommt ihm der größere Zeugniswert zu als
Homer. Auch die Begründung des Seins zugleich im Erkennen und im
«Sagen» der Sprache ist ihm noch unmittelbar bewußt: «Sagen und erkennen
muß man, daß ein Seiendes ist», und dergleichen Sätze mehr, in denen er
immer wieder die Erkenntnis mit der Sprache koppelt. Erkennen ist das
Sagen eines Seienden, το όν λεγειν.
 
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