Visio absoluta
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Gottes und den ihm eigenen Bestimmungen - denn eigentlich sei92.
Nicht als ein die Welt zeitfrei vor-denkender, sondern lediglich als ein
diese bewegender, d.h. deren Geordnetheit garantierender, weil auf
ihn selbst als Ziel hin leitender Grund ist der aristotelische Gott zu
denken (kivei dx; ^pcbpsvov)93. Darin besonders erweist sich eine be-
stimmte Differenz zum creativen Gott. Die Entfaltung des Philoso-
phems des sich denkenden Gottes durch die christliche Theologie, deren
zentrales Interesse auf die Grundlegung der Welt in Gott geht, - etwa
im Denken des Marius Victorinus oder Augustins - gründet wesentlich
auf dem neuplatonischen Begriff des Geistes. Dieser ist daher be-
stimmend geworden für die philosophische und theologische Problem-
konstellation, freilich auch der aristotelische Gedanke durch ihn. Die-
ser Sachverhalt ist zur Konturierung des geschichtlichen Ortes des Cusa-
nus wenigstens für den gegenwärtigen Zusammenhang einigermaßen
hinreichend zu erläutern.
Im plotinischen Begriffe des zeitfreien und daher absoluten Gei-
stes verbindet sich die aristotelische Konzeption 'Denken des Denkens’
mit einer Umformung des parmenideischen Grundgedankens der Iden-
tität von Sein und Denken und dem nun entfalteten platonischen Ver-
such, das „vollkommene Sein“ (KavTeX-cbg öv)94 durch einen ihm imma-
nenten Akt des Denkens zu bestimmen. Dieses Sein des Geistes ist die
Vielfalt der Ideen, die durch die ontologische Valenz der 'Katego-
rien’ Identität und Differenz, Stillstand und Bewegung zwar vonein-
ander als je eigene öuvdpsig verschieden sind, sich aber dennoch derart
aufeinander beziehen, daß Eines im Anderen sich zeigt oder das jeweils
Einzelne das Ganze spiegelt. Differenz ist notwendig, damit das Den-
ken sich in dem Zu-Denkenden überhaupt „gegenständig“ werden kann;
zum Menschen: eine für Cusanus charakteristische Modifikation der Formel
bei Cassiodor, de anima 12; PL 70, 1308 A: tune ero meus cum fuero tuus [i.e.
dei]). Die Potenzierung besteht darin, daß der Mensch sehend, d.h. durch die
'visio intuitiva’ (de fil. dei, Op. I 52,5) in den ermöglichenden Grund seines
Sehens zurückgeführt wird. Dies ist für ihn 'theosis’ im doppelten Sinne: Selbst-
Werden durch einigendes Sehen.
92 Einen ausführlich begründeten Interpretationsvorschlag hat H. J. Krämer vor-
gelegt: Grundfragen der aristotelischen Theologie, in: Theologie und Philosophie
1969, 363-382. 481-505. Hierin führt Krämer detaillierte und für die Geschichte
des Problems aufschlußreiche Überlegungen fort, die Aristoteles vom Geist-
begriff her mit Plotin verbinden und die Logos-Theologie miterörtern: Der Ur-
sprung der Geistmetaphysik, Amsterdam 1964.
Met. 1072 b 3.
94 Soph. 248 e 7f.
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Gottes und den ihm eigenen Bestimmungen - denn eigentlich sei92.
Nicht als ein die Welt zeitfrei vor-denkender, sondern lediglich als ein
diese bewegender, d.h. deren Geordnetheit garantierender, weil auf
ihn selbst als Ziel hin leitender Grund ist der aristotelische Gott zu
denken (kivei dx; ^pcbpsvov)93. Darin besonders erweist sich eine be-
stimmte Differenz zum creativen Gott. Die Entfaltung des Philoso-
phems des sich denkenden Gottes durch die christliche Theologie, deren
zentrales Interesse auf die Grundlegung der Welt in Gott geht, - etwa
im Denken des Marius Victorinus oder Augustins - gründet wesentlich
auf dem neuplatonischen Begriff des Geistes. Dieser ist daher be-
stimmend geworden für die philosophische und theologische Problem-
konstellation, freilich auch der aristotelische Gedanke durch ihn. Die-
ser Sachverhalt ist zur Konturierung des geschichtlichen Ortes des Cusa-
nus wenigstens für den gegenwärtigen Zusammenhang einigermaßen
hinreichend zu erläutern.
Im plotinischen Begriffe des zeitfreien und daher absoluten Gei-
stes verbindet sich die aristotelische Konzeption 'Denken des Denkens’
mit einer Umformung des parmenideischen Grundgedankens der Iden-
tität von Sein und Denken und dem nun entfalteten platonischen Ver-
such, das „vollkommene Sein“ (KavTeX-cbg öv)94 durch einen ihm imma-
nenten Akt des Denkens zu bestimmen. Dieses Sein des Geistes ist die
Vielfalt der Ideen, die durch die ontologische Valenz der 'Katego-
rien’ Identität und Differenz, Stillstand und Bewegung zwar vonein-
ander als je eigene öuvdpsig verschieden sind, sich aber dennoch derart
aufeinander beziehen, daß Eines im Anderen sich zeigt oder das jeweils
Einzelne das Ganze spiegelt. Differenz ist notwendig, damit das Den-
ken sich in dem Zu-Denkenden überhaupt „gegenständig“ werden kann;
zum Menschen: eine für Cusanus charakteristische Modifikation der Formel
bei Cassiodor, de anima 12; PL 70, 1308 A: tune ero meus cum fuero tuus [i.e.
dei]). Die Potenzierung besteht darin, daß der Mensch sehend, d.h. durch die
'visio intuitiva’ (de fil. dei, Op. I 52,5) in den ermöglichenden Grund seines
Sehens zurückgeführt wird. Dies ist für ihn 'theosis’ im doppelten Sinne: Selbst-
Werden durch einigendes Sehen.
92 Einen ausführlich begründeten Interpretationsvorschlag hat H. J. Krämer vor-
gelegt: Grundfragen der aristotelischen Theologie, in: Theologie und Philosophie
1969, 363-382. 481-505. Hierin führt Krämer detaillierte und für die Geschichte
des Problems aufschlußreiche Überlegungen fort, die Aristoteles vom Geist-
begriff her mit Plotin verbinden und die Logos-Theologie miterörtern: Der Ur-
sprung der Geistmetaphysik, Amsterdam 1964.
Met. 1072 b 3.
94 Soph. 248 e 7f.