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Wolfgang Kullmann
tiere erst im 19. Jahrhundert durch Karl Ernst v. Baer entdeckt wurde.
Aristoteles stützte sich bei dieser Theorie auf die beobachteten Analo-
gien zwischen dem Beginn der Samenbildung bei Knaben und der Men-
arche bei Mädchen, wobei beide Prozesse auch mit Stimmwechsel und
Brustknospenbildung verbunden seien, wenn auch bei beiden Geschlech-
tern in unterschiedlichem Maße, sowie zwischen Aufhören der Zeugungs-
fähigkeit und Menopause (A 19.727 a 2ff.; A 8.776 b 15ff.)89. In An-
knüpfung an volkstümliche Vorstellungen und seine eigene Form-
Materie-Lehre meint er ferner, daß im Normalfall das männliche
Sperma den Entwicklungsprozeß in Gang setzt und die Form für die
Nachkommen beisteuert und daß die weiblichen Katamenien den Stoff
bereitstellen (A 21)90. Immer wieder hat dieser Standpunkt dazu bei-
getragen, daß der Zeugungslehre des Aristoteles nicht die gebührende
Aufmerksamkeit gezollt wurde. In Wirklichkeit hat Aristoteles eine sehr
genaue Vorstellung von der Vererbung der einzelnen Körpermerkmale
sowohl von männlicher wie von weiblicher Seite und räumt ein, daß sich
im Einzelfall die männliche Seite bei der Form nicht voll oder überhaupt
nicht durchsetzen kann, so daß dann die weiblichen Katamenien aktiv
an der Formgestaltung des Nachkömmlungs beteiligt sind (A 3). Die
in ihrem Ansatz von einer Ungleichheit des Beitrages der Geschlechter
ausgehende Vererbungstheorie wird dadurch so modifiziert, daß sie im
Grunde auf eine völlige Homologie des Beitrages der Geschlechter hin-
ausläuft91.
Aristoteles äußert sich detailliert zu den physikalisch-chemischen
Prozessen, die seiner Meinung nach bei der Zeugung und der Entstehung
und Entwicklung der Leibesfrucht eine Rolle spielen. Er ist der Auffas-
sung, daß das Sperma aus dem Blute kommt (A 18.19) und wie das
Blut potentiell (Sovctpst) die Eigenschaft hat, alle Organe des lebenden
Körpers aufbauen zu können (vgl. 726 b 9ff.). Seiner Meinung nach
leistet es nicht materiell einen Beitrag zu dem neuen Wesen, sondern
hat nur das Vermögen in sich (önvapig 726 b 18f.), bestimmte „Impulse“
89 Vgl. Erna Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr
Nachwirken, Abhandlung der Akademie der Wissenschaften Mainz, Wiesbaden
1950, 132f.
90 Vgl. Erna Lesky a.a.O. 134ff.
91 Zur Vererbungslehre des Aristoteles vgl. außer Erna Lesky a.a.O. auch Hans
Meyer, Das Vererbungsproblem bei Aristoteles, Philologus NF 29, 1918, 323ff.;
F. Stiebitz, Über die Kausalerklärung der Vererbung bei Aristoteles, Archiv für
Geschichte der Medizin 23, 1930, 332ff. Speziell zur Geschlechtsbestimmung
vgl. K. Blersch, Wesen und Entstehung des Sexus im antiken Denken, Stuttgart
1937, 64ff.
Wolfgang Kullmann
tiere erst im 19. Jahrhundert durch Karl Ernst v. Baer entdeckt wurde.
Aristoteles stützte sich bei dieser Theorie auf die beobachteten Analo-
gien zwischen dem Beginn der Samenbildung bei Knaben und der Men-
arche bei Mädchen, wobei beide Prozesse auch mit Stimmwechsel und
Brustknospenbildung verbunden seien, wenn auch bei beiden Geschlech-
tern in unterschiedlichem Maße, sowie zwischen Aufhören der Zeugungs-
fähigkeit und Menopause (A 19.727 a 2ff.; A 8.776 b 15ff.)89. In An-
knüpfung an volkstümliche Vorstellungen und seine eigene Form-
Materie-Lehre meint er ferner, daß im Normalfall das männliche
Sperma den Entwicklungsprozeß in Gang setzt und die Form für die
Nachkommen beisteuert und daß die weiblichen Katamenien den Stoff
bereitstellen (A 21)90. Immer wieder hat dieser Standpunkt dazu bei-
getragen, daß der Zeugungslehre des Aristoteles nicht die gebührende
Aufmerksamkeit gezollt wurde. In Wirklichkeit hat Aristoteles eine sehr
genaue Vorstellung von der Vererbung der einzelnen Körpermerkmale
sowohl von männlicher wie von weiblicher Seite und räumt ein, daß sich
im Einzelfall die männliche Seite bei der Form nicht voll oder überhaupt
nicht durchsetzen kann, so daß dann die weiblichen Katamenien aktiv
an der Formgestaltung des Nachkömmlungs beteiligt sind (A 3). Die
in ihrem Ansatz von einer Ungleichheit des Beitrages der Geschlechter
ausgehende Vererbungstheorie wird dadurch so modifiziert, daß sie im
Grunde auf eine völlige Homologie des Beitrages der Geschlechter hin-
ausläuft91.
Aristoteles äußert sich detailliert zu den physikalisch-chemischen
Prozessen, die seiner Meinung nach bei der Zeugung und der Entstehung
und Entwicklung der Leibesfrucht eine Rolle spielen. Er ist der Auffas-
sung, daß das Sperma aus dem Blute kommt (A 18.19) und wie das
Blut potentiell (Sovctpst) die Eigenschaft hat, alle Organe des lebenden
Körpers aufbauen zu können (vgl. 726 b 9ff.). Seiner Meinung nach
leistet es nicht materiell einen Beitrag zu dem neuen Wesen, sondern
hat nur das Vermögen in sich (önvapig 726 b 18f.), bestimmte „Impulse“
89 Vgl. Erna Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr
Nachwirken, Abhandlung der Akademie der Wissenschaften Mainz, Wiesbaden
1950, 132f.
90 Vgl. Erna Lesky a.a.O. 134ff.
91 Zur Vererbungslehre des Aristoteles vgl. außer Erna Lesky a.a.O. auch Hans
Meyer, Das Vererbungsproblem bei Aristoteles, Philologus NF 29, 1918, 323ff.;
F. Stiebitz, Über die Kausalerklärung der Vererbung bei Aristoteles, Archiv für
Geschichte der Medizin 23, 1930, 332ff. Speziell zur Geschlechtsbestimmung
vgl. K. Blersch, Wesen und Entstehung des Sexus im antiken Denken, Stuttgart
1937, 64ff.