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Werner Beierwaltes
entwickelt Ficino den Begriff „Seele“ als vermittelnde Mitte zwischen
Ewigkeit und Zeit: gemäß ihrer Substanz hat sie an der Ewigkeit
teil (eius enim substantia eadem semper absque ulla incrementi aut
decrementi mutatione perdurat); ihr Wirken aber (operatio) vollzieht
sich in Zeit105. Daraus resultiert der Gedanke, der Mensch sei selbst
vermittelnde Mitte. Amor und dessen Tendenz zum Intelligiblen,
repräsentiert im intelligiblen Schönen, macht die prinzipielle Richtung
dieser Vermittlung deutlich. Durch neuplatonisches Denken intensiv
und weitläufig begründet, erneuert sich darin zugleich Augustins Kon-
zeption vom Menschen als eines „experimentum (suae) medietatis“.
In ihm bewährt sich die Entscheidungs-Freiheit des Menschen.
Als Konsequenz aus dem Mitte-Sein der menschlichen Seele und
damit des Menschen überhaupt ergibt sich für eine sinnvolle und
gesellte Form menschlichen Lebens, daß der Mensch durch sensus,
imaginatio, phantasia und intellectus, also durch Sinnlichkeit und Re-
flexion die Stufen des Seins (rerum gradus)106 durchmesse und auf-
steige zum begründenden, universalen Prinzip. Maß dieses Auf-
stiegs ist das absolute Eine (rerum omnium terminus et mensura)107,
es bewirkt als Ziel von Denken und Handeln eine immer größere
Einheit oder Stimmigkeit (Konzentration auf das Zentrum) im Den-
ken und Handeln. Ebensosehr aber ist die absolute Schönheit als
eine Erscheinungsform des göttlichen Guten und Einen das wirkende
Moment im Aufstieg: Fons itaque totius pulchritudinis deus est. Fons
ergo totius amoris est deus108. Seit Plotin und Augustinus ist dieser
Aufstieg, wie zuvor schon angedeutet worden ist, als eine Abstrak-
105 A VI 16; 233. PT I 4; I 57: Partim immobile, partim etiam mobile. PT III 2;
I 141: dividua simul et individua. Individua et divisibilis essentia: Porph. de
occasionibus, Fic. Opera II 1929. PT III 1; 132: Stabit eius substantia ... fluet
autem operatio. V 2; 175. Die Seele ist Mitte und Vermittlung in den Intensi-
tätsgraden des Seins (medium obtinens): vinculum naturae totius, Ficino PT I 1;
I 39. Mitte als „rationale“ Funktion: PT XIII 4; II 230ff. Obgleich dieser Grund-
gedanke plotinisch ist, führt das Interesse Ficinos, „Seele“ als ontologische Mitte
aller Dimensionen zu erweisen, offensichtlich zu einer Modifikation des plo-
tinischen Systems: anstelle der drei (terminologisch streng nicht sechs!) Hypo-
stasen Plotins, als deren unterste oder letzte die Seele fungiert, nimmt Ficino
fünf in sich abgegrenzte aber doch aufeinander bezogene Bereiche an, als deren
Mitte die Seele erscheint: „Gott-Engel-Seele-Qualität-Körper“. Vgl. hierzu P. O.
Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino 88 ff
106 A VI 15; 230.
107 A VII 13; 257.
108 A VI 17; 234.
Werner Beierwaltes
entwickelt Ficino den Begriff „Seele“ als vermittelnde Mitte zwischen
Ewigkeit und Zeit: gemäß ihrer Substanz hat sie an der Ewigkeit
teil (eius enim substantia eadem semper absque ulla incrementi aut
decrementi mutatione perdurat); ihr Wirken aber (operatio) vollzieht
sich in Zeit105. Daraus resultiert der Gedanke, der Mensch sei selbst
vermittelnde Mitte. Amor und dessen Tendenz zum Intelligiblen,
repräsentiert im intelligiblen Schönen, macht die prinzipielle Richtung
dieser Vermittlung deutlich. Durch neuplatonisches Denken intensiv
und weitläufig begründet, erneuert sich darin zugleich Augustins Kon-
zeption vom Menschen als eines „experimentum (suae) medietatis“.
In ihm bewährt sich die Entscheidungs-Freiheit des Menschen.
Als Konsequenz aus dem Mitte-Sein der menschlichen Seele und
damit des Menschen überhaupt ergibt sich für eine sinnvolle und
gesellte Form menschlichen Lebens, daß der Mensch durch sensus,
imaginatio, phantasia und intellectus, also durch Sinnlichkeit und Re-
flexion die Stufen des Seins (rerum gradus)106 durchmesse und auf-
steige zum begründenden, universalen Prinzip. Maß dieses Auf-
stiegs ist das absolute Eine (rerum omnium terminus et mensura)107,
es bewirkt als Ziel von Denken und Handeln eine immer größere
Einheit oder Stimmigkeit (Konzentration auf das Zentrum) im Den-
ken und Handeln. Ebensosehr aber ist die absolute Schönheit als
eine Erscheinungsform des göttlichen Guten und Einen das wirkende
Moment im Aufstieg: Fons itaque totius pulchritudinis deus est. Fons
ergo totius amoris est deus108. Seit Plotin und Augustinus ist dieser
Aufstieg, wie zuvor schon angedeutet worden ist, als eine Abstrak-
105 A VI 16; 233. PT I 4; I 57: Partim immobile, partim etiam mobile. PT III 2;
I 141: dividua simul et individua. Individua et divisibilis essentia: Porph. de
occasionibus, Fic. Opera II 1929. PT III 1; 132: Stabit eius substantia ... fluet
autem operatio. V 2; 175. Die Seele ist Mitte und Vermittlung in den Intensi-
tätsgraden des Seins (medium obtinens): vinculum naturae totius, Ficino PT I 1;
I 39. Mitte als „rationale“ Funktion: PT XIII 4; II 230ff. Obgleich dieser Grund-
gedanke plotinisch ist, führt das Interesse Ficinos, „Seele“ als ontologische Mitte
aller Dimensionen zu erweisen, offensichtlich zu einer Modifikation des plo-
tinischen Systems: anstelle der drei (terminologisch streng nicht sechs!) Hypo-
stasen Plotins, als deren unterste oder letzte die Seele fungiert, nimmt Ficino
fünf in sich abgegrenzte aber doch aufeinander bezogene Bereiche an, als deren
Mitte die Seele erscheint: „Gott-Engel-Seele-Qualität-Körper“. Vgl. hierzu P. O.
Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino 88 ff
106 A VI 15; 230.
107 A VII 13; 257.
108 A VI 17; 234.