Die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft
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mulierung - apud deum vita ac meritis antecellerentu's; der soziale
Status des 'Ersten’ im herkömmlichen Sinne verfiel, denn, wie Johan-
nes Chrysostomos schrieb, πολλάκις ό πένης τον πλούσιον πρωτεύει
έν τη εύσεβεία165 166. Und wenn man in einer christlichen Inschrift
doch noch in Erinnerung an die alte Tradition von einem 'Ersten’
sprach, dann war die adäquate Formulierung etwa folgende: άνήρ
τις φιλόχριστος πρωτεύων167. Auf der Ebene von Staat und Gesell-
schaft der irdischen Welt wurden dadurch die politischen und so-
zialen Hierarchien freilich nicht revolutionär zum Einsturz gebracht.
Aber darüber eröffnete sich für den einzelnen Menschen ein neuer,
höherer Horizont - und von dort betrachtet erwies sich dann Roms
Ordnung nicht mehr als die einzig vorstellbare, über alles erhabene
Ordnung der Welt.
Auch wenn sich hier eine neue Gefahr für den Einzelnen auftat,
nämlich der Verlust seiner persönlichen Freiheit durch die Hingabe
an ein neues Wertsystem, so steht doch fest, daß er durch das
Christentum im Vergleich mit der Ethik Roms etwas Unschätzbares
gewonnen hat: Anstelle des sozialen Zwanges, nach einer festge-
schriebenen Rolle den Herausragenden zu spielen und somit als
Person eine persona16*, eine Maske, tragen zu müssen, gewann er
den Anspruch auf persönliche Überzeugung und auf die persönliche
Leistung zugunsten der Mitmenschen. Aber auch von hier mußte
noch ein sehr langer Weg menschlicher Erfahrung durchschritten
werden, bis etwa - um eine echte Alternative wenigstens anzudeu-
ten - Theodor Mommsen in seiner Rektoratsrede vom 15. Oktober
1874 Sätze wie die folgenden als eine Selbstverständlichkeit ausspre-
chen konnte169: 'Gehen Sie ... ihre eigenen Wege - und wenn der
Weg oftmals in die Büsche leitet und man wohl denkt, daß es ein
Irrweg sei; öfter als man zu hoffen wagen durfte, hat sich gezeigt,
daß viele Wege zum gleichen und rechten Ziel fuhren können. Bei
jedem rechten Menschen von Eigenart ist der eigene Weg für ihn
der beste; und jedem von Ihnen steht er offen.’
165 Salv., Ad eccl. 3,35.
166 Joh. Chrysost., De resurr. Christi 3 (2, 442A).
167 OGIS 610.
168 Dazu R. Hirzel, Die Person. Begriff und Name derselben im Altertum. Sitz.-Ber.
d. Bayer. Akad. d. Wiss., Philos.-philol. u. hist. Kl., Jg. 1914, 10. Abh. (München
1914) 40ff.
169 Th. Mommsen, Reden und Aufsätze (Berlin 1905) 15.
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mulierung - apud deum vita ac meritis antecellerentu's; der soziale
Status des 'Ersten’ im herkömmlichen Sinne verfiel, denn, wie Johan-
nes Chrysostomos schrieb, πολλάκις ό πένης τον πλούσιον πρωτεύει
έν τη εύσεβεία165 166. Und wenn man in einer christlichen Inschrift
doch noch in Erinnerung an die alte Tradition von einem 'Ersten’
sprach, dann war die adäquate Formulierung etwa folgende: άνήρ
τις φιλόχριστος πρωτεύων167. Auf der Ebene von Staat und Gesell-
schaft der irdischen Welt wurden dadurch die politischen und so-
zialen Hierarchien freilich nicht revolutionär zum Einsturz gebracht.
Aber darüber eröffnete sich für den einzelnen Menschen ein neuer,
höherer Horizont - und von dort betrachtet erwies sich dann Roms
Ordnung nicht mehr als die einzig vorstellbare, über alles erhabene
Ordnung der Welt.
Auch wenn sich hier eine neue Gefahr für den Einzelnen auftat,
nämlich der Verlust seiner persönlichen Freiheit durch die Hingabe
an ein neues Wertsystem, so steht doch fest, daß er durch das
Christentum im Vergleich mit der Ethik Roms etwas Unschätzbares
gewonnen hat: Anstelle des sozialen Zwanges, nach einer festge-
schriebenen Rolle den Herausragenden zu spielen und somit als
Person eine persona16*, eine Maske, tragen zu müssen, gewann er
den Anspruch auf persönliche Überzeugung und auf die persönliche
Leistung zugunsten der Mitmenschen. Aber auch von hier mußte
noch ein sehr langer Weg menschlicher Erfahrung durchschritten
werden, bis etwa - um eine echte Alternative wenigstens anzudeu-
ten - Theodor Mommsen in seiner Rektoratsrede vom 15. Oktober
1874 Sätze wie die folgenden als eine Selbstverständlichkeit ausspre-
chen konnte169: 'Gehen Sie ... ihre eigenen Wege - und wenn der
Weg oftmals in die Büsche leitet und man wohl denkt, daß es ein
Irrweg sei; öfter als man zu hoffen wagen durfte, hat sich gezeigt,
daß viele Wege zum gleichen und rechten Ziel fuhren können. Bei
jedem rechten Menschen von Eigenart ist der eigene Weg für ihn
der beste; und jedem von Ihnen steht er offen.’
165 Salv., Ad eccl. 3,35.
166 Joh. Chrysost., De resurr. Christi 3 (2, 442A).
167 OGIS 610.
168 Dazu R. Hirzel, Die Person. Begriff und Name derselben im Altertum. Sitz.-Ber.
d. Bayer. Akad. d. Wiss., Philos.-philol. u. hist. Kl., Jg. 1914, 10. Abh. (München
1914) 40ff.
169 Th. Mommsen, Reden und Aufsätze (Berlin 1905) 15.