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Wolgast, Eike; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1980, 9. Abhandlung): Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert — Heidelberg: Winter, 1980

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https://doi.org/10.11588/diglit.45486#0023
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Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts

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rior besaß in diesem Herrschaftsgefüge keine Vollmacht zur Gegenwehr
gegen seinen Landesherrn.
Die Umsetzung dieser Position in die Praxis ist wenige Monate nach
Luthers Tod im Schmalkaldischen Krieg aktuell geworden; damals ha-
ben die Wittenberger Theologen auf der Grundlage ihrer bisherigen
Argumentation den Widerstand der evangelischen Fürsten gegen
Karl V. theologisch legitimiert26. Nach der Ächtung der schmalkaldi-
schen Bundeshäupter griffen Sachsen und Hessen allerdings bezeich-
nenderweise nur auf das positive Recht zurück und beschuldigten den
Kaiser unter Berufung auf ständisches und Lehnsrecht, das Reichsrecht
und die Wahlkapitulation zu verletzen; durch die unrechtmäßige Acht-
erklärung habe er die obligatio mutua gebrochen und sich „gehabten
Keyserlicher Dignitet, Hochheit und Ampts selbst entsetzt“27. Diese
Behauptung der Selbstentsetzung vom obrigkeitlichen Amt war jedoch
nicht prinzipiell gemeint; das Widerstandsrecht wurde nicht in An-
spruch genommen, um Karl V. als Rechtsbrecher zu vertreiben, son-
dern im herkömmlichen Sinn der zeitlich begrenzten diffidatio bis zur
Heilung der Rechtsverletzung ausgeübt.
Wie Luthers ist auch Calvins politische Theologie ausgesprochen
obrigkeitsorientiert gewesen28. Die Aufgaben der Obrigkeit und die
Pflicht der Untertanen zum Gehorsam hat Calvin in der „Institutio chri-
stianae religionis“ ausführlich dargelegt, die Grenzen des Gehorsams
und das Verhalten in Konfliktsituationen dagegen nur verhältnismäßig
kurz erörtert. Auch Calvin richtete seine Unterweisung vor allem an
den amtlosen Untertanen, der nach seiner Lehre die ungerecht han-
delnde Obrigkeit ohne gewaltsame Abwehr zu ertragen hatte. Es gab
keine staatliche Gewalt, die sich im Fehlverhalten selbst ihres Amtes
entsetzte und damit den Untertanen vom Gehorsam entband. Den
schlecht regierenden Fürsten nach seinem Verdienst zu behandeln, war
26 Vgl. CR VI, 122ff. (= Scheible, 98ff.).
27 Hortleder, Von Rechtmäßigkeit, Anfang, Fort- und endlichem Außgang des Teut-
schen Kriegs (2. Aufl. Gotha 1645) III, 30 (S. 442).
28 Zu Calvins Lehre vom Widerstandsrecht vgl. an neuerer Literatur Nürnberger (s.
Anm. 16), passim; E. Wolf, Das Problem des Widerstandsrechts bei Calvin (1956).
In: Kaufmann-Backmann (s. Anm. 1), 152ff. Vgl. auch J. Bohatec, Calvin und das
Recht (Feudingen 1934), 133ff.; M.-E. Cheneviere, La Pensee Politique du Calvin
(Genf-Paris 1937), passim, bes. 308ff.; J. Baur, Gott, Recht und weltliches Regiment
im Werke Calvins (jur. Diss. Köln 1964), 126ff. Vgl. auch R. M. Kingdon, Geneva
and the Coming of the Wars of Religion in France 1555-1563 (Genf 1956); vgl. auch
H. Vahle, Calvinismus und Demokratie im Spiegel der Forschung. In: ARG 66/1975,
182ff.
 
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