Regio Beatitudinis
31
Wie der Mensch Gott in „dieser Welt“ nur im „Spiegel und Rätsel-
bild“ (in speculo et aenigmate) zu sehen imstande ist, jenseits von Zeit
und Geschichte der „civitas terrena“ aber - im „himmlischen Jerusa-
lem“ - von „Angesicht zu Angesicht“ (afacie infaciem): so wie er ist, so
ist ihm analoger Weise das glückliche Leben eigentlich und in Fülle nur
jenseits der Grenze des leiblichen Todes erreichbar. „Jetzt“ sind wir nur
in tröstender Hoffnung glücklich (spe beati), „dann“ aber in Wirklich-
keit: „cuius (vitae beatae) etiam si nondum res, tarnen spes eius nos hoc
tempore consolatur“106. Diese transzendente und endgültige Lebens-
form — das „volle, sichere und ewige Glück“107 - vollzieht sich im Ge-
gensatz zum permanenten desiderium des „unruhigen Herzens“, zum
sich immer wieder selbst herausfordernden Suchen und Finden („sic
quaeramus tamquam inventuri et sic inveniamus tamquam quaesitu-
ri“108) als Ruhe, Muße und unüberbietbarer Friede109 Gottes selber.
Ruhe oder Friede meint allerdings nicht Untätigkeit im geläufigen Sin-
ne: das Ausruhen von den desideria (finis desideriorum) ist vielmehr zu
verstehen als die höchste dem menschlichen Geiste zusammen mit dem
spiritualisierten Körper110 mögliche Intensität seines Seins. Es besteht
im Sehen, in der cognitio, contemplatio oder visio dei111, der absoluten
Wahrheit. „Wir selbst werden der siebte Tag sein“, „der wahrhaft größ-
te Sabbat, der keinen Abend kennt.“ „Ibi vacabimus et videbimus, vide-
bimus et amabimus, amabimus et laudabimus. Ecce quod erit in fine si-
ne fine“112.
Mindestens seit der Religionskritik Feuerbachs würde eine solche
Konzeption, die die Erfüllung menschlichen Lebens, nicht nur in die
Zukunft, sondern in das „Jenseits“ verlegt, als eine Fiktion entlarvt, die
angesichts des gegenwärtigen Unheils auf das erst kommende Glück
106 Doct. Christ. I 22, 20. Zum eschatologischen Aspekt vgl. Retr. I 2 (futura vita). Beata
vita 19f. 35. Trin. XIII 7, 10 (spe beati). Conf. X 20, 29. Civ. Dei II 29. XIX 4. lOf.
XXII 30. Sermo 151, 8, 10. 307, 8, 7. En. in Psalm. 92,1 (ante requiem). 143,9. Vgl.
auch die Unterscheidung von ‘secutio’ und ‘consecutio’ (= ipsa beatitas): Mor. Eccl. I
11, 18. I 6, 10: sequi - assequi.
107 Civ. Dei XXII 30.
108 Trin. IX. 1, 1.
109 ... ubi nobis talis et tanta pax erit, qua melior et maior esse non possit: Civ. Dei XIX
10. II 29, 2.
110 Civ. Dei XX 26. XXII 20f.
111 Vgl. hierzu über den Modus des Gott-Habens unten S. 41. Zur Wirkungsgeschichte
dieses Gedankens, der bei Cusanus sich mit dem Selbst-Sehen Gottes verbindet: W.
Beierwaltes, Identität und Differenz, Frankfurt 1980, 144ff (über ‘visio absoluta’).
112 Civ. Dei XXII 30 s. f.
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Wie der Mensch Gott in „dieser Welt“ nur im „Spiegel und Rätsel-
bild“ (in speculo et aenigmate) zu sehen imstande ist, jenseits von Zeit
und Geschichte der „civitas terrena“ aber - im „himmlischen Jerusa-
lem“ - von „Angesicht zu Angesicht“ (afacie infaciem): so wie er ist, so
ist ihm analoger Weise das glückliche Leben eigentlich und in Fülle nur
jenseits der Grenze des leiblichen Todes erreichbar. „Jetzt“ sind wir nur
in tröstender Hoffnung glücklich (spe beati), „dann“ aber in Wirklich-
keit: „cuius (vitae beatae) etiam si nondum res, tarnen spes eius nos hoc
tempore consolatur“106. Diese transzendente und endgültige Lebens-
form — das „volle, sichere und ewige Glück“107 - vollzieht sich im Ge-
gensatz zum permanenten desiderium des „unruhigen Herzens“, zum
sich immer wieder selbst herausfordernden Suchen und Finden („sic
quaeramus tamquam inventuri et sic inveniamus tamquam quaesitu-
ri“108) als Ruhe, Muße und unüberbietbarer Friede109 Gottes selber.
Ruhe oder Friede meint allerdings nicht Untätigkeit im geläufigen Sin-
ne: das Ausruhen von den desideria (finis desideriorum) ist vielmehr zu
verstehen als die höchste dem menschlichen Geiste zusammen mit dem
spiritualisierten Körper110 mögliche Intensität seines Seins. Es besteht
im Sehen, in der cognitio, contemplatio oder visio dei111, der absoluten
Wahrheit. „Wir selbst werden der siebte Tag sein“, „der wahrhaft größ-
te Sabbat, der keinen Abend kennt.“ „Ibi vacabimus et videbimus, vide-
bimus et amabimus, amabimus et laudabimus. Ecce quod erit in fine si-
ne fine“112.
Mindestens seit der Religionskritik Feuerbachs würde eine solche
Konzeption, die die Erfüllung menschlichen Lebens, nicht nur in die
Zukunft, sondern in das „Jenseits“ verlegt, als eine Fiktion entlarvt, die
angesichts des gegenwärtigen Unheils auf das erst kommende Glück
106 Doct. Christ. I 22, 20. Zum eschatologischen Aspekt vgl. Retr. I 2 (futura vita). Beata
vita 19f. 35. Trin. XIII 7, 10 (spe beati). Conf. X 20, 29. Civ. Dei II 29. XIX 4. lOf.
XXII 30. Sermo 151, 8, 10. 307, 8, 7. En. in Psalm. 92,1 (ante requiem). 143,9. Vgl.
auch die Unterscheidung von ‘secutio’ und ‘consecutio’ (= ipsa beatitas): Mor. Eccl. I
11, 18. I 6, 10: sequi - assequi.
107 Civ. Dei XXII 30.
108 Trin. IX. 1, 1.
109 ... ubi nobis talis et tanta pax erit, qua melior et maior esse non possit: Civ. Dei XIX
10. II 29, 2.
110 Civ. Dei XX 26. XXII 20f.
111 Vgl. hierzu über den Modus des Gott-Habens unten S. 41. Zur Wirkungsgeschichte
dieses Gedankens, der bei Cusanus sich mit dem Selbst-Sehen Gottes verbindet: W.
Beierwaltes, Identität und Differenz, Frankfurt 1980, 144ff (über ‘visio absoluta’).
112 Civ. Dei XXII 30 s. f.