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Werner Beierwaltes
vertröstet: nicht nur der Begriff Gottes, sondern auch das vollendete
Glück im absoluten Sehen würde lediglich als Projektion oder Hyposta-
sierung eines Wunsches verstanden, dem Sein nur im Bewußtsein zukä-
me. Diese Denkform ist Augustinus freilich völlig fremd: Gott ist wirk-
lich in sich selbst, ebensosehr ist er als creator und mediator vorlaufend
wirksam auch in unserem Denken. Eine „psychoanalytische“ Interpre-
tation — und dieser Art ist die Feuerbachsche Religionskritik -, die das
Ungedachte oder Unbewußte in Augustinus zu eruieren versuchte, ent-
zöge sich Augustins Selbstverständnis und seinen Voraussetzungen.
Der Gedanke liegt freilich nahe, daß es sinnvoll und nützlich sei, in ei-
nem ‘age of anxiety’113 Religion oder das kommende Glück als medici-
na animi zu verordnen. Die argumentativ begründete Überzeugung je-
doch, daß der Gegenstand von Religion und Philosophie höchste Reali-
tät sei, ist in diesem Zeitalter im Vergleich zur Neuzeit zu stark, als daß
man sie auf deren Kategorien restringieren dürfte.
3. Wenn Augustinus den Gedanken mit aller Entschiedenheit ver-
tritt, das wahrhafte oder eigentliche glückliche Leben verwirkliche sich
erst in der eschatologischen Zukunft einer viszo beatifica, so heißt dies
nicht, daß die ‘spe beatf sich selbst lediglich als die auf die göttliche
Gnade (passiv) Wartenden zu verstehen hätten. Zwar vermögen sie
nicht „aus sich selbst“ das ersehnte Ziel zu erzwingen, zu einem ‘bene
vivere' aber als der notwendigen Vorbedingung eines ‘beate vivere'114
sind sie gefordert. Diese Vorbedingung ist nicht moralistisch eingeengt
zu fassen, sie meint vielmehr wesentlich den Denkhabitus des Men-
schen, der freilich für sinnvolles Handeln maßgebend wird: Denken hat
seine eigene Voraussetzung zu entdecken und damit aber auch die in ihm
strukturell angelegte Möglichkeit, sich mit dem Grund der zukünftigen
‘beata vita auch „jetzt schon“ denkend und erkennend zu verbinden oder
an ihm zu partizipieren. Anknüpfend an bereits Angedeutetes möchte
ich nun am Leitfaden einiger wichtiger Texte115 diesen Grundzug augu-
stinischen Denkens in Erinnerung bringen.
113 E. R. Dodds, Pagan and Christian in an Age of Anxiety, Cambridge 1965.
114 Mor. Eccl. I 6, 10.
115 Vgl. insbesondere De vera religione 39, 72; Conf. VII 10, 16 und Lib. arb. II. Zu der
Confessiones-Stelle vgl. F. E. van Fleteren in: Augustinian Studies 5, 1974, 29ff. Daß
die ‘reditio’ oder Selbsterkenntnis die Vorbedingung glücklichen Lebens ist, macht
De ordine II 18,47 deutlich: duplex quaestio est: una de anima, altera de deo. Prima
efficit, ut nosmetipsos noverimus; altera, ut originem nostram . . . illa nos dignos beata
vita, beatos haec facit. [Der höchst aufschlußreiche Artikel von R. J. O’Connell, The
Enneads and Saint Augustine’s Image of Happiness, in: Vigiliae Christianae 17,1963,
129-164 ist mir erst nach Fertigstellung des Manuskripts bekannt geworden. Er stützt
Werner Beierwaltes
vertröstet: nicht nur der Begriff Gottes, sondern auch das vollendete
Glück im absoluten Sehen würde lediglich als Projektion oder Hyposta-
sierung eines Wunsches verstanden, dem Sein nur im Bewußtsein zukä-
me. Diese Denkform ist Augustinus freilich völlig fremd: Gott ist wirk-
lich in sich selbst, ebensosehr ist er als creator und mediator vorlaufend
wirksam auch in unserem Denken. Eine „psychoanalytische“ Interpre-
tation — und dieser Art ist die Feuerbachsche Religionskritik -, die das
Ungedachte oder Unbewußte in Augustinus zu eruieren versuchte, ent-
zöge sich Augustins Selbstverständnis und seinen Voraussetzungen.
Der Gedanke liegt freilich nahe, daß es sinnvoll und nützlich sei, in ei-
nem ‘age of anxiety’113 Religion oder das kommende Glück als medici-
na animi zu verordnen. Die argumentativ begründete Überzeugung je-
doch, daß der Gegenstand von Religion und Philosophie höchste Reali-
tät sei, ist in diesem Zeitalter im Vergleich zur Neuzeit zu stark, als daß
man sie auf deren Kategorien restringieren dürfte.
3. Wenn Augustinus den Gedanken mit aller Entschiedenheit ver-
tritt, das wahrhafte oder eigentliche glückliche Leben verwirkliche sich
erst in der eschatologischen Zukunft einer viszo beatifica, so heißt dies
nicht, daß die ‘spe beatf sich selbst lediglich als die auf die göttliche
Gnade (passiv) Wartenden zu verstehen hätten. Zwar vermögen sie
nicht „aus sich selbst“ das ersehnte Ziel zu erzwingen, zu einem ‘bene
vivere' aber als der notwendigen Vorbedingung eines ‘beate vivere'114
sind sie gefordert. Diese Vorbedingung ist nicht moralistisch eingeengt
zu fassen, sie meint vielmehr wesentlich den Denkhabitus des Men-
schen, der freilich für sinnvolles Handeln maßgebend wird: Denken hat
seine eigene Voraussetzung zu entdecken und damit aber auch die in ihm
strukturell angelegte Möglichkeit, sich mit dem Grund der zukünftigen
‘beata vita auch „jetzt schon“ denkend und erkennend zu verbinden oder
an ihm zu partizipieren. Anknüpfend an bereits Angedeutetes möchte
ich nun am Leitfaden einiger wichtiger Texte115 diesen Grundzug augu-
stinischen Denkens in Erinnerung bringen.
113 E. R. Dodds, Pagan and Christian in an Age of Anxiety, Cambridge 1965.
114 Mor. Eccl. I 6, 10.
115 Vgl. insbesondere De vera religione 39, 72; Conf. VII 10, 16 und Lib. arb. II. Zu der
Confessiones-Stelle vgl. F. E. van Fleteren in: Augustinian Studies 5, 1974, 29ff. Daß
die ‘reditio’ oder Selbsterkenntnis die Vorbedingung glücklichen Lebens ist, macht
De ordine II 18,47 deutlich: duplex quaestio est: una de anima, altera de deo. Prima
efficit, ut nosmetipsos noverimus; altera, ut originem nostram . . . illa nos dignos beata
vita, beatos haec facit. [Der höchst aufschlußreiche Artikel von R. J. O’Connell, The
Enneads and Saint Augustine’s Image of Happiness, in: Vigiliae Christianae 17,1963,
129-164 ist mir erst nach Fertigstellung des Manuskripts bekannt geworden. Er stützt