16
Ernst Schulin
Recht“, sondern nur vom Staat, und wird nicht müde zu wiederholen,
daß Sittlichkeit Sache der Gesellschaft, also der Kultur, nicht Sache des
Staates sei (262).
Burckhardt bringt also in seinem Kulturbegriff verschiedene ge-
schichtsphilosophische Ideen über den schaffenden, geschichtlich
verändernden Geist, über den Zivilisations-, Rationalisierungs- und
Vergeistigungsprozeß und über das Freiheitsprinzip und zusätzlich
auch noch seine Hochschätzung der Kunst unter, ohne die philosophi-
schen und politischen Ansprüche, die sonst mit diesen Ideen verbun-
den wurden, für sich als verbindlich anzusehen.
Es erscheint mir daher auch sehr fraglich, ob man in der von ihm
mehrmals betonten Gegenüberstellung der beiden „stabilen“ Poten-
zen Staat und Religion zu der beweglichen der Kultur (254) einfach den
Gegensatz von Macht und Freiheit sehen kann, wie es zuerst Hermann
Bächtold getan hat und wie es in der amerikanischen Übersetzung der
Weltgeschichtlichen Betrachtungen von 1943 sogar als Titel gesetzt
worden ist: „Force and Freedom“.23 Damit unterschätzt man nicht nur,
daß Burckhardt in manchen anderen Beziehungen eine enge Verbin-
dung zwischen Religion und Kultur feststellt, sondern auch seine Hin-
weise auf die Ermöglichung von Freiheit und Kulturbetätigung durch
bestimmte Staaten und Religionen oder auf Machtausübung seitens
kultureller Kräfte. Gewalt und Freiheit sind für Burckhardt geschicht-
liche Elemente, die in und zwischen allen Potenzen ihre Rolle spielen,
wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise. Das gleiche läßt sich von
dem ebenso elementaren Gegensatz des Geistigen zum Materiellen
sagen, den Burckhardt in der Potenz Kultur nicht etwa auflöst, sondern
hier und in den anderen Potenzen als ständigen Antagonismus sieht.
Man sollte also die Dreizahl der Potenzen nicht durch solche Gegen-
satzpaare verkürzen wollen, sollte freilich auch nicht bei der schieren
Nebeneinanderstellung dieser Trias stehenbleiben, sondern sich klar-
machen, daß Burckhardt die drei Potenzen vor allem deshalb unter-
scheidet, weil er sich in die Untersuchung ihres gegenseitigen Aufein-
anderwirkens stürzen will, in die systematische Betrachtung der sechs
23 Hermann Bächtold, Die Entstehung von Jakob Burckhardts ‘Weltgeschichtlichen
Betrachtungen’, in seinen: Gesammelten Schriften, Aarau 1939, S. 330. Kaegi
(wie Anm. 9), Bd. VI, S. 74, der dieser These mit Zurückhaltung gegenübersteht,
weist noch auf Karl Joel und Emil Dürr hin und reproduziert neben S. 122 das
Titelblatt der amerikanischen Übersetzung.
Ernst Schulin
Recht“, sondern nur vom Staat, und wird nicht müde zu wiederholen,
daß Sittlichkeit Sache der Gesellschaft, also der Kultur, nicht Sache des
Staates sei (262).
Burckhardt bringt also in seinem Kulturbegriff verschiedene ge-
schichtsphilosophische Ideen über den schaffenden, geschichtlich
verändernden Geist, über den Zivilisations-, Rationalisierungs- und
Vergeistigungsprozeß und über das Freiheitsprinzip und zusätzlich
auch noch seine Hochschätzung der Kunst unter, ohne die philosophi-
schen und politischen Ansprüche, die sonst mit diesen Ideen verbun-
den wurden, für sich als verbindlich anzusehen.
Es erscheint mir daher auch sehr fraglich, ob man in der von ihm
mehrmals betonten Gegenüberstellung der beiden „stabilen“ Poten-
zen Staat und Religion zu der beweglichen der Kultur (254) einfach den
Gegensatz von Macht und Freiheit sehen kann, wie es zuerst Hermann
Bächtold getan hat und wie es in der amerikanischen Übersetzung der
Weltgeschichtlichen Betrachtungen von 1943 sogar als Titel gesetzt
worden ist: „Force and Freedom“.23 Damit unterschätzt man nicht nur,
daß Burckhardt in manchen anderen Beziehungen eine enge Verbin-
dung zwischen Religion und Kultur feststellt, sondern auch seine Hin-
weise auf die Ermöglichung von Freiheit und Kulturbetätigung durch
bestimmte Staaten und Religionen oder auf Machtausübung seitens
kultureller Kräfte. Gewalt und Freiheit sind für Burckhardt geschicht-
liche Elemente, die in und zwischen allen Potenzen ihre Rolle spielen,
wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise. Das gleiche läßt sich von
dem ebenso elementaren Gegensatz des Geistigen zum Materiellen
sagen, den Burckhardt in der Potenz Kultur nicht etwa auflöst, sondern
hier und in den anderen Potenzen als ständigen Antagonismus sieht.
Man sollte also die Dreizahl der Potenzen nicht durch solche Gegen-
satzpaare verkürzen wollen, sollte freilich auch nicht bei der schieren
Nebeneinanderstellung dieser Trias stehenbleiben, sondern sich klar-
machen, daß Burckhardt die drei Potenzen vor allem deshalb unter-
scheidet, weil er sich in die Untersuchung ihres gegenseitigen Aufein-
anderwirkens stürzen will, in die systematische Betrachtung der sechs
23 Hermann Bächtold, Die Entstehung von Jakob Burckhardts ‘Weltgeschichtlichen
Betrachtungen’, in seinen: Gesammelten Schriften, Aarau 1939, S. 330. Kaegi
(wie Anm. 9), Bd. VI, S. 74, der dieser These mit Zurückhaltung gegenübersteht,
weist noch auf Karl Joel und Emil Dürr hin und reproduziert neben S. 122 das
Titelblatt der amerikanischen Übersetzung.