24
Ernst Schulin
tiger Bedingungsverhältnisse. Viel wichtiger als der Hauptgang der
Geschichte ist es, daß es z.B. andersartige Verhältnisse bei Juden und
Phöniziern gab. Mag in der einzelnen griechischen Polis der Staat
beherrschend sein, die Vielzahl der nebeneinander bestehenden und
miteinander wetteifernden griechischen Kleinstaaten war entschei-
dend für die Kultur. Ähnliches gilt für das europäische Mittelalter und
für die Neuzeit. Ohne das Nebeneinander verschiedenartiger Be-
dingungszusammenhänge wären Spontaneität, Freiheit und hohe Lei-
stungen der Kultur gar nicht möglich, - falls dann überhaupt lebens-
wertes Leben möglich wäre. Für diese Gesichtspunkte scheint der
Längsschnitt durch die Geschichte, ja überhaupt die Zeitabfolge nahe-
zu sinnlos oder nur deshalb wichtig zu sein, weil zeitliche Veränderun-
gen immer neue gefahrvolle, kulturfeindliche, den Menschen mit Leid
bedrohende Konstellationen von Gewalt bringen können.
Wie kompliziert und zum Teil widersprüchlich hier Burckhardt als
historischer Betrachter reagierte, läßt sich an seiner Behandlung der
frühen Neuzeit zeigen. In den Weltgeschichtlichen Betrachtungen
herrscht hier, wie wir sahen, der absolutistische Staat, der die Kultur in
seinen Dienst zwang, bis sie im 18. Jahrhundert gleichsam Rache übte.
Ein Semester später in den Vorlesungen über das 17. und 18. Jahr-
hundert bewunderte er die „früher unerhörte Vielartigkeit des Lebens“
seit Anfang der neueren Zeit, „welche dann im 17. und 18. Jahrhundert
sich weiter entwickelt“, und nennt dieses Sich-Aussprechen aller Kräf-
te typisch europäisch.28 Elf Jahre später (1880) sagt er Ähnliches über
das 16. Jahrhundert: „Wenn irgendwann, so ist es hier möglich, die
Geschichte als Geschichte des Geistes zu fassen und den Schutt der
äußeren Tatsachen zu bändigen, nicht nur, weil in den betreffenden
Bewegungen viel idealer, ja metaphysischer Antrieb lag, sondern weil
dieselben in Staat und Krieg, in Religion, Kunst und Wissenschaft
durch originale Individuen, zum Teil höchsten Ranges, vertreten sind.“29
Diese (jeweils einleitenden) Bemerkungen deuten auf eine kulturge-
schichtliche Behandlungsweise hin, etwa in Weiterführung seines
Buches über die Kultur der italienischen Renaissance. Seit Kaegis
genauen Beschreibungen von Burckhardts Vorlesungen wissen wir
aber, daß er zwar seine Vorlesungen über griechische und mittelalter-
liche Geschichte in dieser Zeit kulturgeschichtlich orientierte, nicht
aber diejenigen über die Neuzeit. Hier stand weiterhin die politische
28 Historische Fragmente, hg. von Werner Kaegi, Stuttgart/Berlin 1942, S. 141f.
29 Ebenda S. 62f.
Ernst Schulin
tiger Bedingungsverhältnisse. Viel wichtiger als der Hauptgang der
Geschichte ist es, daß es z.B. andersartige Verhältnisse bei Juden und
Phöniziern gab. Mag in der einzelnen griechischen Polis der Staat
beherrschend sein, die Vielzahl der nebeneinander bestehenden und
miteinander wetteifernden griechischen Kleinstaaten war entschei-
dend für die Kultur. Ähnliches gilt für das europäische Mittelalter und
für die Neuzeit. Ohne das Nebeneinander verschiedenartiger Be-
dingungszusammenhänge wären Spontaneität, Freiheit und hohe Lei-
stungen der Kultur gar nicht möglich, - falls dann überhaupt lebens-
wertes Leben möglich wäre. Für diese Gesichtspunkte scheint der
Längsschnitt durch die Geschichte, ja überhaupt die Zeitabfolge nahe-
zu sinnlos oder nur deshalb wichtig zu sein, weil zeitliche Veränderun-
gen immer neue gefahrvolle, kulturfeindliche, den Menschen mit Leid
bedrohende Konstellationen von Gewalt bringen können.
Wie kompliziert und zum Teil widersprüchlich hier Burckhardt als
historischer Betrachter reagierte, läßt sich an seiner Behandlung der
frühen Neuzeit zeigen. In den Weltgeschichtlichen Betrachtungen
herrscht hier, wie wir sahen, der absolutistische Staat, der die Kultur in
seinen Dienst zwang, bis sie im 18. Jahrhundert gleichsam Rache übte.
Ein Semester später in den Vorlesungen über das 17. und 18. Jahr-
hundert bewunderte er die „früher unerhörte Vielartigkeit des Lebens“
seit Anfang der neueren Zeit, „welche dann im 17. und 18. Jahrhundert
sich weiter entwickelt“, und nennt dieses Sich-Aussprechen aller Kräf-
te typisch europäisch.28 Elf Jahre später (1880) sagt er Ähnliches über
das 16. Jahrhundert: „Wenn irgendwann, so ist es hier möglich, die
Geschichte als Geschichte des Geistes zu fassen und den Schutt der
äußeren Tatsachen zu bändigen, nicht nur, weil in den betreffenden
Bewegungen viel idealer, ja metaphysischer Antrieb lag, sondern weil
dieselben in Staat und Krieg, in Religion, Kunst und Wissenschaft
durch originale Individuen, zum Teil höchsten Ranges, vertreten sind.“29
Diese (jeweils einleitenden) Bemerkungen deuten auf eine kulturge-
schichtliche Behandlungsweise hin, etwa in Weiterführung seines
Buches über die Kultur der italienischen Renaissance. Seit Kaegis
genauen Beschreibungen von Burckhardts Vorlesungen wissen wir
aber, daß er zwar seine Vorlesungen über griechische und mittelalter-
liche Geschichte in dieser Zeit kulturgeschichtlich orientierte, nicht
aber diejenigen über die Neuzeit. Hier stand weiterhin die politische
28 Historische Fragmente, hg. von Werner Kaegi, Stuttgart/Berlin 1942, S. 141f.
29 Ebenda S. 62f.