Einleitung: Forschungsgeschichtliche Perspektiven
„Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident“ - so der Koran1. Der Klas-
sischen Altertumswissenschaft fällt gleiche Gelassenheit schwerer; das Nebenein-
ander gerät fast stets zur Antithese. Im Abwehrkampf gegen den Orient’, das
persische Weltreich, sind die Griechen sich ihrer Eigenart bewußt geworden; im
Zeitalter der Kreuzzüge sind Begriff und Name Orient’ in die abendländischen
Sprachen eingegangen2; und auch heute noch ist unbefangene Diskussion orien-
talisch-griechischer Beziehungen nicht selbstverständlich, sie stößt auf bezogene
Positionen, Apologetik, wenn nicht Ressentiment. Dem Fremden, Unbekannten
begegnet vorsichtige Abwehrhaltung und hält es eben damit auf Distanz. Dies
ist nicht zuletzt das Ergebnis einer wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung,
die vor etwa 200 Jahren einsetzte, als fortschreitende Spezialisierung und ideo-
logische Abschirmung übereinkamen in der Isolierung des reinen Griechentums.
Solange die Philologie aufs engste mit der Theologie verbunden war, bis weit
ins 18. Jahrhundert hinein, stand die hebräische Bibel mit Selbstverständlich-
keit neben den griechischen Klassikern, und Querverbindungen schienen problem-
los. Jephthas Tochter und Iphigenie waren als Exempel austauschbar; man fand
in lapetos den Japhet, in den Kabiren semitische 'Große Götter’, in Kadmos dem
Phöniker den Osten’ wie in Europa den 'Westen’3, man nahm überhaupt mit
Herodot die Phöniker als ostwestliche Vermittler an. Diese Symbiose zerbrach
durch drei neue Tendenzen, die je ihre eigenen Abgrenzungen errichteten und
dabei die Linie Orient-Griechenland gemeinsam blockierten: Die Philologie eman-
zipierte sich von der Theologie - Friedrich August Wolf folgt der Ruhm, sich 1777
demonstrativ als studiosusphilologiae immatrikuliert zu haben4 -, während zugleich
1 Koran 2, 142, bekannt in der Gestaltung J. W. Goethes, Der West-Östliche Divan: Talis-
mane (Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche III [1948] 290).
2 E. Littre, Dictionnaire de la langue franpaise (1857) V 1125; The Oxford English Dic-
tionary (1933) VII 199; J. Grimm, Deutsches Wörterbuch VII (1889) 1345. Angelegt ist
die Antithese Orient-Okzident vor allem im christlichen Latein, Thesaurus linguae
Latinae IX 2, 1004, 52ff. Έχ Oriente lux’ ist nicht antik.
3 Die Etymologie von Kabeiros/hebr. arab. kabir geht auf J. J. Scaliger zurück, Coniec-
tanea in Μ. Terentium de lingua Latina (1565) 146 (Hinweis von A. Kurmann), vgl.
Hemberg (1950) 318f.; dagegen eine indische Etymologie bei J. Wackernagel ZVS 41
(1907) 316-8, eine kleinasiatische bei P. Kretschmer ib. 55 (1928) 82-8. Kadmos/^<7m
wird von Edwards (1979) 58, 60 bis 1646 zurückverfolgt; Ευρώπη· ή χώρα τής δύσεως
Hsch. (hebr. ’ereb; Edwards 78f.). Zu lapetos I 4, 37.
4 Präzisierend R. Pfeiffer, History of Classical Scholarship from 1300 to 1850 (1976) 173,
vgl. E. Schröder, Studiosus philologiae, NJb 32 (1913) 168-71.
„Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident“ - so der Koran1. Der Klas-
sischen Altertumswissenschaft fällt gleiche Gelassenheit schwerer; das Nebenein-
ander gerät fast stets zur Antithese. Im Abwehrkampf gegen den Orient’, das
persische Weltreich, sind die Griechen sich ihrer Eigenart bewußt geworden; im
Zeitalter der Kreuzzüge sind Begriff und Name Orient’ in die abendländischen
Sprachen eingegangen2; und auch heute noch ist unbefangene Diskussion orien-
talisch-griechischer Beziehungen nicht selbstverständlich, sie stößt auf bezogene
Positionen, Apologetik, wenn nicht Ressentiment. Dem Fremden, Unbekannten
begegnet vorsichtige Abwehrhaltung und hält es eben damit auf Distanz. Dies
ist nicht zuletzt das Ergebnis einer wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung,
die vor etwa 200 Jahren einsetzte, als fortschreitende Spezialisierung und ideo-
logische Abschirmung übereinkamen in der Isolierung des reinen Griechentums.
Solange die Philologie aufs engste mit der Theologie verbunden war, bis weit
ins 18. Jahrhundert hinein, stand die hebräische Bibel mit Selbstverständlich-
keit neben den griechischen Klassikern, und Querverbindungen schienen problem-
los. Jephthas Tochter und Iphigenie waren als Exempel austauschbar; man fand
in lapetos den Japhet, in den Kabiren semitische 'Große Götter’, in Kadmos dem
Phöniker den Osten’ wie in Europa den 'Westen’3, man nahm überhaupt mit
Herodot die Phöniker als ostwestliche Vermittler an. Diese Symbiose zerbrach
durch drei neue Tendenzen, die je ihre eigenen Abgrenzungen errichteten und
dabei die Linie Orient-Griechenland gemeinsam blockierten: Die Philologie eman-
zipierte sich von der Theologie - Friedrich August Wolf folgt der Ruhm, sich 1777
demonstrativ als studiosusphilologiae immatrikuliert zu haben4 -, während zugleich
1 Koran 2, 142, bekannt in der Gestaltung J. W. Goethes, Der West-Östliche Divan: Talis-
mane (Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche III [1948] 290).
2 E. Littre, Dictionnaire de la langue franpaise (1857) V 1125; The Oxford English Dic-
tionary (1933) VII 199; J. Grimm, Deutsches Wörterbuch VII (1889) 1345. Angelegt ist
die Antithese Orient-Okzident vor allem im christlichen Latein, Thesaurus linguae
Latinae IX 2, 1004, 52ff. Έχ Oriente lux’ ist nicht antik.
3 Die Etymologie von Kabeiros/hebr. arab. kabir geht auf J. J. Scaliger zurück, Coniec-
tanea in Μ. Terentium de lingua Latina (1565) 146 (Hinweis von A. Kurmann), vgl.
Hemberg (1950) 318f.; dagegen eine indische Etymologie bei J. Wackernagel ZVS 41
(1907) 316-8, eine kleinasiatische bei P. Kretschmer ib. 55 (1928) 82-8. Kadmos/^<7m
wird von Edwards (1979) 58, 60 bis 1646 zurückverfolgt; Ευρώπη· ή χώρα τής δύσεως
Hsch. (hebr. ’ereb; Edwards 78f.). Zu lapetos I 4, 37.
4 Präzisierend R. Pfeiffer, History of Classical Scholarship from 1300 to 1850 (1976) 173,
vgl. E. Schröder, Studiosus philologiae, NJb 32 (1913) 168-71.