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Walter Burkert
Für Ort und Zeit der Übernahme der Φοινικήια, wie die Buchstaben nach Hero-
dots Zeugnis genannt wurden4, gibt es viele feste Anhaltspunkte, doch bleiben
auch Fragen offen, und Neufunde können das Bild verschieben. Die ältesten zur
Zeit bekannten Zeugnisse stammen aus Naxos, Ischia, Athen und Euboia5 und
setzen etwas vor 750 ein. Dies fügt sich aufs beste zu den Handelsbeziehungen
der Icrwones von Syrien über Euboia nach dem Westen. Auf Ischia finden sich
die griechischen Graffiti im Verbund mit phönikisch-aramäischen, so daß in Einzel-
fällen die Zuweisung umstritten ist6. Eine Komplikation ergibt sich aus der Tat-
sache, daß in den Zusatzbuchstaben gerade das chalkidikische Alphabet (X = 'x’)
vom attischen (X = 'ch’) sich unterscheidet; beiden muß doch wohl ein 'rotes’
Alphabet ohne Zusatzbuchstaben vorausgegangen sein, wie es auf Kreta, Melos,
Thera belegt ist7. Einiges spricht für die Vermutung, daß Cypern als Zwischen-
station eine Rolle spielte: die distinktive Bezeichnung der Buchstaben als Φοινικήια
setzt sprachlogisch voraus, daß andere γράμματα bekannt waren, von denen die
'phönikischen’ abzuheben waren. Dies war einzig auf Cypern der Fall, wo eine
Linearschrift mykenischen Typs dem Griechischen angepaßt worden war8. Doch
läßt sich ebensowohl auf Kreta verweisen, weniger wegen der phönikischen In-
schrift auf jener Schale, die bereits um 900 in ein Grab bei Knossos kam, als
wegen der besonders engen Beziehungen zu orientalischem Handwerk und orien-
talischen Handwerkern um und nach 800; auf Kreta sind auch früher als andern-
orts Gesetze schriftlich aufgezeichnet worden9. Doch fehlen bislang auf Cypern
4 Hdt. 5, 58; ποινικαστάς 'Schreiber’ in Kreta: L. H. Jeffery, A. Morpurgo Davies Kadmos
9 (1970) 118-54; SEG 27 (1977) 631.
5 Ein Ehrenplatz bleibt der Dipylonkanne (735/25), IG I2 919 = SEG 28 (1978) 36; Heubeck
(1979) 116-8; Boardman (1981) 96f., auch wenn eine Inschrift aus Ischia jetzt als etwas
älter gilt (750/30), Buchner (1978) 135-7, und eine geometrische Scherbe mit Graffito
aus Naxos gar auf 770 angesetzt wird, BCH 106 (1982) 605; 604 fig. 132. Man beachte
die Rolle von Naxos bei der sizilischen Kolonisation um eben diese Zeit. - Lefkandi:
Popham/Sackett/Themelis (1980) 89-92. Vgl. Johnston (1983).
6 Graffito mit liegendem Alpha, P. K. McCarter AJA 79 (1975) 140f., als griechisch bei
Guarducci (1967) 225, Heubeck (1979) 123, aramäisch nach Garbini (1978), Coldstream
(1982) 271. - Griechisches und aramäisches Graffito auf der gleichen Scherbe: Johnston
(1983) 64 fig. 2. Zum 'Nestorbecher’ Heubeck (1979) 109-16, vgl. auch A. Landi, Dia-
letti e interazione sociale in Magna Grecia (1971) 225f.
Die Farben nach A. Kirchhoff, Studien zur Geschichte des griechischen Alphabets (1863;
18874).
8 Heubeck (1979) 85-7 vgl. 64-70. Eine phönikische Inschrift aus
Kition, 9. Jh., liefert die nächste Parallele zur griechischen Form des Jod/Iota, Coldstream
(1982) 271. Altertümlich klingt der Terminus διφϋεραλοιφός auf Cypern, Hsch. s.v.
(Δ 1992). Ältestes griechisches Dokument in kyprischer Silbenschrift: V. Karageorghis
CRAI 1980, 122-36 (11. Jh.).
9 Boardman (1970) 18-23, (1981) 68. Graffito auf einem geometrischen Pithos aus Phaistos,
um 700, Kret. Chron. 21 (1969) 153-70; Heubeck (1979) 125. Zur phönikischen In-
schrift -* 1, 4.
Walter Burkert
Für Ort und Zeit der Übernahme der Φοινικήια, wie die Buchstaben nach Hero-
dots Zeugnis genannt wurden4, gibt es viele feste Anhaltspunkte, doch bleiben
auch Fragen offen, und Neufunde können das Bild verschieben. Die ältesten zur
Zeit bekannten Zeugnisse stammen aus Naxos, Ischia, Athen und Euboia5 und
setzen etwas vor 750 ein. Dies fügt sich aufs beste zu den Handelsbeziehungen
der Icrwones von Syrien über Euboia nach dem Westen. Auf Ischia finden sich
die griechischen Graffiti im Verbund mit phönikisch-aramäischen, so daß in Einzel-
fällen die Zuweisung umstritten ist6. Eine Komplikation ergibt sich aus der Tat-
sache, daß in den Zusatzbuchstaben gerade das chalkidikische Alphabet (X = 'x’)
vom attischen (X = 'ch’) sich unterscheidet; beiden muß doch wohl ein 'rotes’
Alphabet ohne Zusatzbuchstaben vorausgegangen sein, wie es auf Kreta, Melos,
Thera belegt ist7. Einiges spricht für die Vermutung, daß Cypern als Zwischen-
station eine Rolle spielte: die distinktive Bezeichnung der Buchstaben als Φοινικήια
setzt sprachlogisch voraus, daß andere γράμματα bekannt waren, von denen die
'phönikischen’ abzuheben waren. Dies war einzig auf Cypern der Fall, wo eine
Linearschrift mykenischen Typs dem Griechischen angepaßt worden war8. Doch
läßt sich ebensowohl auf Kreta verweisen, weniger wegen der phönikischen In-
schrift auf jener Schale, die bereits um 900 in ein Grab bei Knossos kam, als
wegen der besonders engen Beziehungen zu orientalischem Handwerk und orien-
talischen Handwerkern um und nach 800; auf Kreta sind auch früher als andern-
orts Gesetze schriftlich aufgezeichnet worden9. Doch fehlen bislang auf Cypern
4 Hdt. 5, 58; ποινικαστάς 'Schreiber’ in Kreta: L. H. Jeffery, A. Morpurgo Davies Kadmos
9 (1970) 118-54; SEG 27 (1977) 631.
5 Ein Ehrenplatz bleibt der Dipylonkanne (735/25), IG I2 919 = SEG 28 (1978) 36; Heubeck
(1979) 116-8; Boardman (1981) 96f., auch wenn eine Inschrift aus Ischia jetzt als etwas
älter gilt (750/30), Buchner (1978) 135-7, und eine geometrische Scherbe mit Graffito
aus Naxos gar auf 770 angesetzt wird, BCH 106 (1982) 605; 604 fig. 132. Man beachte
die Rolle von Naxos bei der sizilischen Kolonisation um eben diese Zeit. - Lefkandi:
Popham/Sackett/Themelis (1980) 89-92. Vgl. Johnston (1983).
6 Graffito mit liegendem Alpha, P. K. McCarter AJA 79 (1975) 140f., als griechisch bei
Guarducci (1967) 225, Heubeck (1979) 123, aramäisch nach Garbini (1978), Coldstream
(1982) 271. - Griechisches und aramäisches Graffito auf der gleichen Scherbe: Johnston
(1983) 64 fig. 2. Zum 'Nestorbecher’ Heubeck (1979) 109-16, vgl. auch A. Landi, Dia-
letti e interazione sociale in Magna Grecia (1971) 225f.
Die Farben nach A. Kirchhoff, Studien zur Geschichte des griechischen Alphabets (1863;
18874).
8 Heubeck (1979) 85-7 vgl. 64-70. Eine phönikische Inschrift aus
Kition, 9. Jh., liefert die nächste Parallele zur griechischen Form des Jod/Iota, Coldstream
(1982) 271. Altertümlich klingt der Terminus διφϋεραλοιφός auf Cypern, Hsch. s.v.
(Δ 1992). Ältestes griechisches Dokument in kyprischer Silbenschrift: V. Karageorghis
CRAI 1980, 122-36 (11. Jh.).
9 Boardman (1970) 18-23, (1981) 68. Graffito auf einem geometrischen Pithos aus Phaistos,
um 700, Kret. Chron. 21 (1969) 153-70; Heubeck (1979) 125. Zur phönikischen In-
schrift -* 1, 4.