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Walter Burkert
Seher kennzeichnet, der auch nach griechischer Version mit Kilikien verbunden
ist. An die kilikische Herkunft der Seher von Paphos (Anm. 16) ist dabei zu er-
innern. Neben Mopsos steht, mit gut griechischem Namen, Amphilochos der
Sohn des Amphiaraos. Mopsos und Amphilochos sind gemeinsam die Gründungs-
heroen des berühmten Orakels von Mallos in Kilikien, einem Ort, wo orientali-
sche und griechische Traditionen sich in besonderer Weise treffen33. Gerade über
die Gestalt des wandernden Sehers also stellt der griechische Mythos eine Ver-
bindung zwischen Griechenland und Kilikien her; Tarsos, wo ebenso Keilschrift-
dokumente mantischen Inhalts wie griechische Keramik sich fanden, liegt dann
nicht weit ab; auch führt die 'hesiodeische’ Bezeugung des Mythos an die Zeit
der Karatepe-Inschrift, an die Assyrerzeit zumindest nahe heran. Die aus ganz
anderen Indizien zu erschließende Ausbreitung der Seherkunst vom Euphrat
bis zu Griechen und Etruskern gibt den plausiblen Hintergrund ab für die Aus-
bildung des Mopsos-Mythos. Freilich hat die griechische Erzählung die Verhält-
nisse umgekehrt, läßt den Griechen Mopsos nach Kilikien auswandem, wo doch
offenbar sein Name seit je zuhause ist. Immerhin läßt der Mythos diesen Mopsos
im Wettkampf obsiegen über Kalchas, den „besten der Vogelschauer“; die fremde
Herkunft jener 'Kunst’ aber wird verdrängt.
Nicht zu vergessen ist, daß auch eine ganze Reihe von anderen Formen der
Mantik dem semitischen Orient und den Griechen gemeinsam sind; neben der
Deutung vieler anderer portenta spielt auch die Vogelschau in Babylon eine un-
verächtliche Rolle34. Eine speziellere Kunst sind verschiedene Arten von Lekano-
mantie35 36, sei es daß man Öl auf Wasser gießt, sei es daß man Mehl auf Flüs-
sigkeiten streut; hiervon, „Essig und Mehl ins gleiche Gefäß gießen“ und ihre
Bewegung beobachten, spricht einmal Aischylos, und Farnell hat dies als ein
klares Beispiel mesopotamischen Einflusses gewertet30. Die Bedeutung der Leber-
schau haben solche Praktiken indessen auch nicht von ferne erreicht. Daß gerade
λεκάνη ein aramäisches Wort ist37, dürfte wieder Zufall sein.
33 Zu Mallos RE XIV 916f. Münzen des 4. Jh. mit einem Flügelwesen, das an die as-
syrisch-persische Flügelsonne erinnert, ein Typ mit bilinguer, griechisch-aramäischer Be-
schriftung: C. Μ. Kraay, Archaic and Classical Greek Coins (1976) 285.
34 Hunger (1909) 23-25; Jastrow II (1912) 798-812; E. Reiner JNES 19 (1960) 28.
35 Zimmern (1901) 85; 89; J. Hunger, Becherwahrsagung bei den Babyloniern-nach zwei
Keilschrifttexten aus der Hammurabi-Zeit (1903); Jastrow II (1912) 749-75. Vgl. Ganszy-
niec 'Lekanomanteia’ RE XII 1879-88.
36 Aisch. Ag. 322; Farnell (1911) 301; vgl. J. Nougayrol, Aleuromancie babylonienne,
Orientalia N.S. 31 (1963) 381-6.
Walter Burkert
Seher kennzeichnet, der auch nach griechischer Version mit Kilikien verbunden
ist. An die kilikische Herkunft der Seher von Paphos (Anm. 16) ist dabei zu er-
innern. Neben Mopsos steht, mit gut griechischem Namen, Amphilochos der
Sohn des Amphiaraos. Mopsos und Amphilochos sind gemeinsam die Gründungs-
heroen des berühmten Orakels von Mallos in Kilikien, einem Ort, wo orientali-
sche und griechische Traditionen sich in besonderer Weise treffen33. Gerade über
die Gestalt des wandernden Sehers also stellt der griechische Mythos eine Ver-
bindung zwischen Griechenland und Kilikien her; Tarsos, wo ebenso Keilschrift-
dokumente mantischen Inhalts wie griechische Keramik sich fanden, liegt dann
nicht weit ab; auch führt die 'hesiodeische’ Bezeugung des Mythos an die Zeit
der Karatepe-Inschrift, an die Assyrerzeit zumindest nahe heran. Die aus ganz
anderen Indizien zu erschließende Ausbreitung der Seherkunst vom Euphrat
bis zu Griechen und Etruskern gibt den plausiblen Hintergrund ab für die Aus-
bildung des Mopsos-Mythos. Freilich hat die griechische Erzählung die Verhält-
nisse umgekehrt, läßt den Griechen Mopsos nach Kilikien auswandem, wo doch
offenbar sein Name seit je zuhause ist. Immerhin läßt der Mythos diesen Mopsos
im Wettkampf obsiegen über Kalchas, den „besten der Vogelschauer“; die fremde
Herkunft jener 'Kunst’ aber wird verdrängt.
Nicht zu vergessen ist, daß auch eine ganze Reihe von anderen Formen der
Mantik dem semitischen Orient und den Griechen gemeinsam sind; neben der
Deutung vieler anderer portenta spielt auch die Vogelschau in Babylon eine un-
verächtliche Rolle34. Eine speziellere Kunst sind verschiedene Arten von Lekano-
mantie35 36, sei es daß man Öl auf Wasser gießt, sei es daß man Mehl auf Flüs-
sigkeiten streut; hiervon, „Essig und Mehl ins gleiche Gefäß gießen“ und ihre
Bewegung beobachten, spricht einmal Aischylos, und Farnell hat dies als ein
klares Beispiel mesopotamischen Einflusses gewertet30. Die Bedeutung der Leber-
schau haben solche Praktiken indessen auch nicht von ferne erreicht. Daß gerade
λεκάνη ein aramäisches Wort ist37, dürfte wieder Zufall sein.
33 Zu Mallos RE XIV 916f. Münzen des 4. Jh. mit einem Flügelwesen, das an die as-
syrisch-persische Flügelsonne erinnert, ein Typ mit bilinguer, griechisch-aramäischer Be-
schriftung: C. Μ. Kraay, Archaic and Classical Greek Coins (1976) 285.
34 Hunger (1909) 23-25; Jastrow II (1912) 798-812; E. Reiner JNES 19 (1960) 28.
35 Zimmern (1901) 85; 89; J. Hunger, Becherwahrsagung bei den Babyloniern-nach zwei
Keilschrifttexten aus der Hammurabi-Zeit (1903); Jastrow II (1912) 749-75. Vgl. Ganszy-
niec 'Lekanomanteia’ RE XII 1879-88.
36 Aisch. Ag. 322; Farnell (1911) 301; vgl. J. Nougayrol, Aleuromancie babylonienne,
Orientalia N.S. 31 (1963) 381-6.