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Burkert, Walter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 1. Abhandlung): Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur: vorgetragen am 8. Mai 1982 — Heidelberg: Winter, 1984

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https://doi.org/10.11588/diglit.47812#0080
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Walter Burkert

Form des Schadenzaubers; sie steht bei Platon unmittelbar neben der Defixio35.
Ein Hexer 'schickt’ seinen Feinden Böses 'auf den Hals’. Darum ist es so wichtig
herauszufinden, wer dahinter steckt, um das Übel an der Wurzel zu bekämpfen
oder vielmehr, im Sinne des 'Besänftigens’, zu einer gütlichen Lösung zu kom-
men. Darum wird das 'Bild des Bösen’ denn auch erst beköstigt und dann
energisch abserviert. Also ist der Schluß zu ziehen: ίκέσιος bezeichnet in Kyrene
nicht einen schutzflehenden Menschen, sondern einen bösen Geist, der einen
'ankommt’36.
Die Hypothese muß sich an Hand der beiden anderen Paragraphen über den
Umgang mit ίκέσιοι in Apollons Weisung für Kyrene bestätigen oder falsifizie-
ren lassen37. Der zweite Abschnitt ist praktisch vollständig erhalten, doch leidet
das Verständnis unter der Mehrdeutigkeit der Ausdrücke τελίσκεσϋαι bzw. άτελής/
τετελεσμένος und προφέρεσθαι. Dazu kommt, daß der archaische Stil das Subjekt
des Verbums unbezeichnet läßt und wir auch nicht wissen, was das 'öffentliche
Heiligtum’, δαμόσιον ίαρόν der Kyrenäer war. Es sei versucht, ohne weitere
Festlegung die Struktur der Weisung wiederzugeben, wobei τελεΐν in dem allge-
meinen Sinn 'Vollzug eines Rituals’ genommen werden kann38: Beim zweiten
ίκέσιος, der sich im 'öffentlichen Heiligtum’ niedergelassen hat, ist entweder das
Ritual bereits vollzogen oder nicht vollzogen; liegt eine 'Äußerung’ vor, vollzieht
man das Ritual um den Preis, den die 'Äußerung’ nennt; liegt keine 'Äußerung’
vor, muß man alljährlich für alle Zeiten Feldfrüchte opfern und Spenden aus-
gießen; falls ein Kind dies vergißt und eine Unterbrechung eintreten läßt und
dann eine 'Äußerung’ erfolgt, ist 'dem Gott’ zur Sühne zu opfern, was das Orakel
mitteilt, und zwar 'dem väterlichen Gott’, falls man ihn kennt; anderfalls ist das
Orakel zu befragen.
Daß es hier im wesentlichen um Einrichtung und Aufrechterhaltung eines
Kultes geht, ist klar. Interpreten, die dies auf einen Schutzflehenden’ beziehen,
machen drei Zusatzannahmen: es handle sich um einen Mörder - obgleich doch
nur im dritten Abschnitt, im Unterschied zu den vorhergehenden, von einem
Mörder die Rede ist -; der Kult gelte dem Opfer des Mordes; die 'Äußerung’
erfolge durch einen Priester: “(the priest) lays down”, und jenes 'Ritual’ bedeute
Aufnahme in die Bürgerschaft, “to be initiated”39. Absurd unter diesen Vor-
aussetzungen ist bereits die erste Zeile: das Ritual kann bereits vollzogen oder
35 Plat. Resp. 364c έπαγωγαΐς τισι και καταδέσμοις; Eur. Hipp. 318 έξ έπακτοΰ πημονής;
vgl. Theophr. Char. 16, 7; Hippokr. Vict. 4, 89 VI Littre; Parker (1983) 348.
36 Diese Auffassung vertrat erstmals H. J. Stukey CP 32 (1937) 32-43, jetzt auch Parker
(1983) 348f.
37 Diese Konsequenz zieht auch Stukey, nicht aber Parker (1983) 348: der 2. und 3.
ίκέσιος sei “palpably human”.
38 Zur Bedeutung von τελεΐν im Sinne von “to do rites on” K. Dowden RHR 197 (1980)
415f.
39 LSJ προφέρειν und τελίσκειν; vgl. Sokolowski zu LSS 115, 40-9.
 
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