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Burkert, Walter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 1. Abhandlung): Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur: vorgetragen am 8. Mai 1982 — Heidelberg: Winter, 1984

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https://doi.org/10.11588/diglit.47812#0097
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Die orientalisierende Epoche

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'Anu und Adad’, den Wettergott, für die Erde 'Sin und Nergal’, Mondgott und
Totengott; die Unterwelt also ist dem Begriff 'Erde’ zugerechnet; fest liegt der
Bereich von Enki, dem Herrn der Wassertiefe - nicht des Salzmeeres, sondern
des trinkbaren Grund- und Quellwassers, was übrigens auch für Poseidon wesent-
lich ist
Nun stehen in der Ilias die bekannten und später oft zitierten Verse, in denen
die homerische Einteilung der Welt mit den zuständigen Göttern besetzt wird.
Poseidon spricht: „Als wir die Lose warfen, da erhielt ich die graue See zum
ständigen Wohnsitz, Hades erlöste das dunstige Dunkel, Zeus aber erlöste den
weiten Himmel mit Himmelsblau und Wolken; die Erde ist allen gemeinsam und
der weite Olymp“6.
Vom System des 'Atrahasis’ weicht dies in dem Detail ab, daß Erde samt
Götterberg zum Condominium erklärt werden; Poseidon pocht ja auf sein Recht,
vor Troia aktiv zu werden. Aber die Grundstruktur beider Texte ist überraschend
ähnlich: drei Bereiche des Kosmos sind unterschieden, Himmel, Erdentiefe und
Wasser, und diese drei kosmischen Bereiche sind den drei ranghöchsten Göttern
des Pantheons zugewiesen, männlichen Göttern insgesamt. Die Verteilung erfolgt
in beiden Fällen ausdrücklich durch das Los. Dies ist bei griechischen Göttern
sonst nicht der Brauch; nach Hesiod hat Zeus seinen Vorgänger und Vater mit
Gewalt entthront, dann aber haben alle andern Götter ihn aufgefordert, König zu
sein7. Auch in anderer Hinsicht ist der Passus in der griechischen Überlieferung,
genauer besehen, ein Unicum: wenn sonst im alten Epos die Teile des Kosmos
aufgezählt werden, finden sich die Dreiheiten Himmel-Erde-Unterwelt oder
Himmel-Meer-Erde, oder auch eine Vierheit als Kombination8. Die Dreiheit
der Kronossöhne und ihrer Bereiche spielt im weiteren bei Homer keine Rolle.
Dagegen ist jener Passus im Atrahasis-Text grundlegend und wird wiederholt
aufgegriffen.
Es dürfte keinen anderen Homerpassus geben, der so nahe daran herankommt,
Übersetzung eines akkadischen Epos zu sein. Gewiß, es ist nicht Übersetzung, son-
dern Umsetzung, doch in einer Weise, daß das fremde Gerüst noch durch-
schimmert. Man mag noch immer an den Zufall glauben, der uns narrt. Doch steht
der Passus im Gesamtbau der Ilias in einem sehr besonderen Kontext. Die Szene
gehört noch zu dem Stück, das die Antike den 'Trug an Zeus’, Διος άπατη be-
6 II. 15, 187-93. Die drei göttlichen Brüder sind dargestellt auf einer schwarzfigurigen Schale
des Xenokles-Malers, Brit. Mus. B 425, ABV 184. Die 'Losung’ wurde in Klares lo-
kalisiert und als Erklärung dieses Ortsnamens angeführt, Schol. Apoll. Rh. 1, 308.
7 Hes. Theog. 883.
8 Himmel-Erde-Unterwelt im Eid II. 15, 36f., vgl. 3, 277-9, Od. 5, 184f; Erde-Him-
mel-Meer II. 18, 483 (Schildbeschreibung), Od. 1, 52f, Hes. Theog., 847, Hymn. Dem.
33f.; Himmel-Unterwelt-Erde-Meer Hes. Theog. 736f. Vgl. E. G. Schmidt, Himmel-
Erde-Meer im frühgriechischen Epos und im alten Orient, Philologus 125 (1981) 1-24
(der Atrahasis noch nicht kennt).
 
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