Die orientalisierende Epoche
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System gebunden, das in seiner Eigenart und Funktion Milman Parry erschlossen
hat2; es ist ein Produkt mündlicher Tradition und ermöglicht eben diese in Form
immer neuer Improvisation im vorgegebenen Rahmen. Unter diesem Gesichts-
punkt ist 'Homer’ zu einem Modellfall einer mündlichen Dichtung überhaupt
geworden3. Dagegen steht die orientalische Epik zumindest im Zweistromland
in einer Jahrtausende überspannenden, festen Tradition der Schriftlichkeit und der
Schreiberschulen. Hier sind immer wieder Tafeln kopiert, auch übersetzt worden.
Man sollte also ganz verschiedene Stilprinzipien erwarten.
Demgegenüber fallen jedem, der beide Seiten zur Kenntnis nimmt, weit mehr
die Gemeinsamkeiten auf. Das Wesentliche, zumeist schon Festgestellte sei ohne
Anspruch auf Vollständigkeit zusammengefaßt:
Hier wie dort geht es um erzählende Dichtung in einer Form von Langvers,
der sich gleichmäßig ohne Strophenbildung wiederholt. Die Rede ist von Göttern
und großen Menschen der Vergangenheit, nicht selten in Interaktion. Auffallende
Stil Charakteristika sind die stehenden Beiwörter, die Formelverse, die Verswieder-
holungen, die typischen Szenen.
So erscheint, vergleichbar dem 'Wolkensammler Zeus’ oder dem 'listenreichen
Odysseus’, der Hauptgott Enlil sehr oft als 'der Held Enlil’4, der Sintflutheros
fast immer als 'Utnapistim der Feme’5; die gefährlichen 'Sieben’ im Erra-Epos
sind 'Helden ohne gleichen’6. Ähnlich kennt das ugaritische Epos feste Ver-
bindungen wie 'die Jungfrau Anat’ oder 'Danel der Rephaite’7. Noch 'homerischer’
klingt, wenn der Mitstreiter 'kundig im Kampfe’ heißt8. Weniger klar ist, wieso
die 'Herrin der Götter’ 'gut im Rufen’ ist9: eine δεινή ϋεδς αύδήεσσα? Die Erde
ist 'die weite Erde’10, und ein Himmelsgott kann 'Vater der Götter und Men-
schen’ heißen11. Die Beiwörter werden 'schmückend’, ohne direkt vom Kontext
der jeweiligen Situation gefordert zu sein, angewandt und helfen unter anderem
auch dazu, den Halbvers aufzufüllen.
Unter den Formelversen ist am auffälligsten die umständliche Einleitung der
direkten Rede; die reichliche Verwendung der direkten Rede, die Darstellung
2 Μ. Parry, The Making of Homeric Verse ed. A. Parry (1971); R. Finnegan, Oral Poetry,
Its Nature, Significance, and Social Context (1977).
3 Die Unterschiede betonte F. Dirlmeier, Das serbokroatische Heldenlied und Homer,
Sitzungsber. Heidelberg 1971, 1.
4 Zum Folgenden·auch Bowra (1952) 241; quradu Enlil Atrahasis 1,8 = Gilgames XI 16.
5 Utnapistim rüqu, Gilgames X/XI pass.
6 quarräd la sandn Erra pass.
7 btlt cnt in 'Baal’ und 'Aqhat’ pass., dnl rp'e Aqhat pass.
8 müdu tuquntu Gilgames IV vi 30.
9 tabat rigma Gilgames XI 117.
10 Gilgames VIII iii/iv 43; 46; 47 p. 49 Thompson: ersetim rapastim.
11 Sumerische Gebetsbeschwörung an Sin, SAHG 233, Z. 16 = Castellino (1977) 336, 16. -
El ab 'dm ugaritisch pass.
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System gebunden, das in seiner Eigenart und Funktion Milman Parry erschlossen
hat2; es ist ein Produkt mündlicher Tradition und ermöglicht eben diese in Form
immer neuer Improvisation im vorgegebenen Rahmen. Unter diesem Gesichts-
punkt ist 'Homer’ zu einem Modellfall einer mündlichen Dichtung überhaupt
geworden3. Dagegen steht die orientalische Epik zumindest im Zweistromland
in einer Jahrtausende überspannenden, festen Tradition der Schriftlichkeit und der
Schreiberschulen. Hier sind immer wieder Tafeln kopiert, auch übersetzt worden.
Man sollte also ganz verschiedene Stilprinzipien erwarten.
Demgegenüber fallen jedem, der beide Seiten zur Kenntnis nimmt, weit mehr
die Gemeinsamkeiten auf. Das Wesentliche, zumeist schon Festgestellte sei ohne
Anspruch auf Vollständigkeit zusammengefaßt:
Hier wie dort geht es um erzählende Dichtung in einer Form von Langvers,
der sich gleichmäßig ohne Strophenbildung wiederholt. Die Rede ist von Göttern
und großen Menschen der Vergangenheit, nicht selten in Interaktion. Auffallende
Stil Charakteristika sind die stehenden Beiwörter, die Formelverse, die Verswieder-
holungen, die typischen Szenen.
So erscheint, vergleichbar dem 'Wolkensammler Zeus’ oder dem 'listenreichen
Odysseus’, der Hauptgott Enlil sehr oft als 'der Held Enlil’4, der Sintflutheros
fast immer als 'Utnapistim der Feme’5; die gefährlichen 'Sieben’ im Erra-Epos
sind 'Helden ohne gleichen’6. Ähnlich kennt das ugaritische Epos feste Ver-
bindungen wie 'die Jungfrau Anat’ oder 'Danel der Rephaite’7. Noch 'homerischer’
klingt, wenn der Mitstreiter 'kundig im Kampfe’ heißt8. Weniger klar ist, wieso
die 'Herrin der Götter’ 'gut im Rufen’ ist9: eine δεινή ϋεδς αύδήεσσα? Die Erde
ist 'die weite Erde’10, und ein Himmelsgott kann 'Vater der Götter und Men-
schen’ heißen11. Die Beiwörter werden 'schmückend’, ohne direkt vom Kontext
der jeweiligen Situation gefordert zu sein, angewandt und helfen unter anderem
auch dazu, den Halbvers aufzufüllen.
Unter den Formelversen ist am auffälligsten die umständliche Einleitung der
direkten Rede; die reichliche Verwendung der direkten Rede, die Darstellung
2 Μ. Parry, The Making of Homeric Verse ed. A. Parry (1971); R. Finnegan, Oral Poetry,
Its Nature, Significance, and Social Context (1977).
3 Die Unterschiede betonte F. Dirlmeier, Das serbokroatische Heldenlied und Homer,
Sitzungsber. Heidelberg 1971, 1.
4 Zum Folgenden·auch Bowra (1952) 241; quradu Enlil Atrahasis 1,8 = Gilgames XI 16.
5 Utnapistim rüqu, Gilgames X/XI pass.
6 quarräd la sandn Erra pass.
7 btlt cnt in 'Baal’ und 'Aqhat’ pass., dnl rp'e Aqhat pass.
8 müdu tuquntu Gilgames IV vi 30.
9 tabat rigma Gilgames XI 117.
10 Gilgames VIII iii/iv 43; 46; 47 p. 49 Thompson: ersetim rapastim.
11 Sumerische Gebetsbeschwörung an Sin, SAHG 233, Z. 16 = Castellino (1977) 336, 16. -
El ab 'dm ugaritisch pass.