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Burkert, Walter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 1. Abhandlung): Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur: vorgetragen am 8. Mai 1982 — Heidelberg: Winter, 1984

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https://doi.org/10.11588/diglit.47812#0127
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Die orientalisierende Epoche

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Mythologie. Daß die Menschen aus dem Blut eines aufrührerischen Gottes er-
schaffen werden, der dem Göttergericht verfällt, stellt auch das 'Enuma elis’ dar;
andere Texte liefern Varianten dazu18. Vor allem aber geht bereits im alt-
babylonischen Atrahasis-Epos die Menschenschöpfung so vor sich: Mit dem
Lehm (tlt) muß Fleisch und Blut eines Gottes gemischt werden, „damit Gott
und Mensch gründlich miteinander im Lehm vermischt werden: aus dem Blut des
Gottes soll ein Geist vorhanden sein“19. Das mit 'Geist’ übersetzte Wort ist
etemmu, das sonst den zu exorzierenden Totengeist bezeichnet20. Dies ist unge-
wöhnlich und eben darum so bemerkenswert. Hier bereits, rund 1000 Jahre vor
Homer, liegt eine dualistische Anthropologie vor, die 'Geist’ und 'Lehm’ im
Menschen, das göttliche und das körperliche Element einander gegenüberstellt.
Ähnliches der Orphik bereits in der archaischen Epoche zuzuweisen, ist alles
andere als anachronistisch. Gewiß, der orphische Dionysosmythos ist keine Über-
setzung aus dem Orientalischen. Doch eine kontinuierliche Tradition gerade über
die Sukzessionen der άγύρται και μάντεις ist von der Überlieferung wie von den
innerlich notwendigen Zusammenhängen her anzunehmen. Dann freilich geht der
ostwestliche Zusammenhang über bloß zufällige Berührungen und punktuelle
Entlehnungen entschieden hinaus.
Doch wie die Orphik nicht eigentlich repräsentativ für das ist, was die Einzig-
artigkeit der griechischen Klassik ausmacht, sind auch nicht allein die charisma-
tischen 'Handwerker’ für ostwestlichen Austausch verantwortlich zu machen. Es
muß auch rein literarische Beziehungen gegeben haben, die ihren Niederschlag
in der Gestaltung homerischer Szenen, vor allem der Götterszenen gefunden haben
so gut wie in der Weisheitsliteratur eines Hesiod. Wenn 'Homer’ die Weitsicht
der Griechen für die Folgezeit prägen konnte, so ist er dauerhaft doch eben
dadurch zur Wirkung gekommen, daß die Griechen in den Bereich der Schrift-
kultur sich endlich einbeziehen ließen. Kultur wächst nicht aus eigener Kraft in
stiller Verborgenheit, sie wird bewegt durch Lerneifer, Neugier, Aufnahmewillig-
keit gerade im Kontakt mit dem Anderen, dem Fremden; so hat sie besonders
in einer Umbruchszeit wie der orientalisierenden Epoche ihre Chance. Das 'grie-

18 Enuma elis VI 1-34; ein Text aus Assur (KAR 4): A. Heidel, The Babylonian Genesis
(1942) 68-72; Berossos FGrHist 680 F 1, p. 373 Jacoby; vgl. V. Maag, Sumerische und
babylonische Mythen von der Erschaffung des Menschen, Asiatische Studien 8 (1954)
85-106 = Kultur, Kulturkontakt und Religion (1980) 38-59; G. Pettinato, Das altorienta-
lische Menschenbild und die sumerischen und akkadischen Schöpfungsmythen, Abh.
Heidelberg 1971, 1.
19 Atrahasis I 215: Ina sir Hi etemmu libsi. W. v. Soden, Symbolae biblicae et meso-
potamicae F. Μ. T. de Liagre Böhl dedicatae (1973) 349-58, vgl. ZA 68 (1978) 80f.,
sucht statt etemmu ein Wort edimmu TVildmensch’ zu fassen; ihm folgt L. Cagni in:
F. Vattioni (ed.), Sangue e Antropologia Biblica (1981) 79-81. Vgl. auch W. L. Moran,
The Creation of Man in Atrahasis I, 192-248, BASO 200 (1970) 48-56.
20 - II 5, 2.
 
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