10
Eberhard Jüngel
Allerdings will er die systematischen Voraussetzungen der Exegese
gerade nicht als Axiome verstanden wissen, sondern als Ausgangs-
punkt eines sachgemäßen Fragens. Die Systematik des Exegeten hat
nach seinem Urteil keine andere Aufgabe, „als die sachgemäßen Fra-
gen aus[zu]arbeiten“, die den auszulegenden Text zum Sprechen zu
bringen vermögen. Als Systematik des Fragens unterscheidet sie sich
„von jeder Weltanschauung und Dogmatik“8.
Die Abgrenzung „von jeder... Dogmatik“ darf allerdings nicht dahin mißver-
standen werden, als ob Bultmann die dogmatische Arbeit der Theologie in
Frage stellen wollte. Seine Polemik gilt vielmehr einem ungeschichtlichen
Begriff von Dogmatik, der eine definitive und insofern zeitlos gültige Lösung der
theologischen Aufgabe suggeriert. In den Epilegomena seiner Theologie des
Neuen Testaments hat Bultmann die so verstandene Dogmatik als „christliche
Normaldogmatik“ charakterisiert, für die die „Kontinuität der Theologie durch
die Zeiten hindurch ... im Festhalten an einmal formulierten Sätzen“ besteht.
Eine solche Kontinuität kann es deshalb „nicht geben“, weil es „nicht möglich
ist, die theologische Aufgabe definitiv zu lösen, - die Aufgabe, die darin besteht,
das aus dem Glauben erwachsende Verständnis von Gott und damit von Welt
und Mensch zu entwickeln“9.
Daß ein derart ungeschichtlicher Begriff von Dogmatik dem widerspricht,
was nicht wenige evangelische Dogmatiker des 20. Jahrhunderts als ihre Auf-
gabe verstanden, war Bultmann selber durchaus bewußt. Obwohl er den Termi-
nus „Dogmatik“ gern (mehr oder weniger) distanziert verwendet - darin verrät
sich das Erbe der religionsgeschichtlichen Schule -, kann er doch von deren
Aufgabe und Gegenstand durchaus positiv reden. So, wenn er „die natürliche
Theologie“ - in dem von ihm bestimmten Sinne - einen ständigen „Bestandteil
der dogmatischen Arbeit selbst“ nennt und sich dafür sogar auf Paulus und
Luther beruft10. Oder wenn er vom „Inhalt der Dogmatik“ sagt, daß zu ihm „auf
jeden Fall... die gläubige Existenz“ gehöre11. Mit unmißverständlicher Deut-
lichkeit reagierte er zudem auf Barths 1927 erschienene Christliche Dogmatik. In
einem Brief an Barth vom 8. Juni 1928 heißt es: „Ich stimme Ihnen darin zu, daß
es zurzeit keine wirkliche Dogmatik unter uns gibt, u. ich begreife Ihr Buch als
einen Anfang echter dogmatischer Arbeit“12. Bultmann hat also gegen eine
„wirkliche Dogmatik“ keine Vorbehalte, er bejaht vielmehr die Notwendigkeit
„echter dogmatischer Arbeit“. Im Blick auf die eigenen Prämissen seiner exege-
tischen Arbeit redete er gleichwohl lieber von „systematischen Voraussetzun-
gen“.
8 Ebd.
9 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, hg. von O. Merk, 8198O, 585.
10 R. Bultmann, Das Problem der „natürlichen Theologie“, in: Glauben und Verstehen.
Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, 81980, 294-312, 311f.
11 AaO. 305.
12 Karl Barth - Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1922-1966, hg. von B. Jaspert, Karl
Barth-Gesamtausgabe V/l, 1971, 80.
Eberhard Jüngel
Allerdings will er die systematischen Voraussetzungen der Exegese
gerade nicht als Axiome verstanden wissen, sondern als Ausgangs-
punkt eines sachgemäßen Fragens. Die Systematik des Exegeten hat
nach seinem Urteil keine andere Aufgabe, „als die sachgemäßen Fra-
gen aus[zu]arbeiten“, die den auszulegenden Text zum Sprechen zu
bringen vermögen. Als Systematik des Fragens unterscheidet sie sich
„von jeder Weltanschauung und Dogmatik“8.
Die Abgrenzung „von jeder... Dogmatik“ darf allerdings nicht dahin mißver-
standen werden, als ob Bultmann die dogmatische Arbeit der Theologie in
Frage stellen wollte. Seine Polemik gilt vielmehr einem ungeschichtlichen
Begriff von Dogmatik, der eine definitive und insofern zeitlos gültige Lösung der
theologischen Aufgabe suggeriert. In den Epilegomena seiner Theologie des
Neuen Testaments hat Bultmann die so verstandene Dogmatik als „christliche
Normaldogmatik“ charakterisiert, für die die „Kontinuität der Theologie durch
die Zeiten hindurch ... im Festhalten an einmal formulierten Sätzen“ besteht.
Eine solche Kontinuität kann es deshalb „nicht geben“, weil es „nicht möglich
ist, die theologische Aufgabe definitiv zu lösen, - die Aufgabe, die darin besteht,
das aus dem Glauben erwachsende Verständnis von Gott und damit von Welt
und Mensch zu entwickeln“9.
Daß ein derart ungeschichtlicher Begriff von Dogmatik dem widerspricht,
was nicht wenige evangelische Dogmatiker des 20. Jahrhunderts als ihre Auf-
gabe verstanden, war Bultmann selber durchaus bewußt. Obwohl er den Termi-
nus „Dogmatik“ gern (mehr oder weniger) distanziert verwendet - darin verrät
sich das Erbe der religionsgeschichtlichen Schule -, kann er doch von deren
Aufgabe und Gegenstand durchaus positiv reden. So, wenn er „die natürliche
Theologie“ - in dem von ihm bestimmten Sinne - einen ständigen „Bestandteil
der dogmatischen Arbeit selbst“ nennt und sich dafür sogar auf Paulus und
Luther beruft10. Oder wenn er vom „Inhalt der Dogmatik“ sagt, daß zu ihm „auf
jeden Fall... die gläubige Existenz“ gehöre11. Mit unmißverständlicher Deut-
lichkeit reagierte er zudem auf Barths 1927 erschienene Christliche Dogmatik. In
einem Brief an Barth vom 8. Juni 1928 heißt es: „Ich stimme Ihnen darin zu, daß
es zurzeit keine wirkliche Dogmatik unter uns gibt, u. ich begreife Ihr Buch als
einen Anfang echter dogmatischer Arbeit“12. Bultmann hat also gegen eine
„wirkliche Dogmatik“ keine Vorbehalte, er bejaht vielmehr die Notwendigkeit
„echter dogmatischer Arbeit“. Im Blick auf die eigenen Prämissen seiner exege-
tischen Arbeit redete er gleichwohl lieber von „systematischen Voraussetzun-
gen“.
8 Ebd.
9 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, hg. von O. Merk, 8198O, 585.
10 R. Bultmann, Das Problem der „natürlichen Theologie“, in: Glauben und Verstehen.
Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, 81980, 294-312, 311f.
11 AaO. 305.
12 Karl Barth - Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1922-1966, hg. von B. Jaspert, Karl
Barth-Gesamtausgabe V/l, 1971, 80.