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Jüngel, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 1. Abhandlung): Glauben und Verstehen: zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns; vorgetragen am 20. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47815#0063
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Glauben und Verstehen

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Der Praxisbezug der Theologie besteht also nach Bultmann in for-
maler Hinsicht in nichts anderem als darin, dem Menschen das wahre
Verständnis seiner selbst und seiner Welt zu ermöglichen. Das ent-
spricht allerdings kaum dem alten Begriff von scientia practica. Im
Horizont der aristotelischen Unterscheidung von theoretischen und
praktischen Wissenschaften scheint die Theologie, wie sie Bultmann
versteht, eher auf der Seite der theoretischen Wissenschaften zu stehen
zu kommen. Wenn dies für ihn gleichwohl nicht in Betracht kommt, ist
das in der Tatsache begründet, daß das wahre Selbstverständnis des
Menschen geschichtlich ist. Die mit der Frage nach der Wahrheit iden-
tische „Frage ..., wie ich mich verstehe“, fragt, „da das Dasein zeitlich,
geschichtlich ist“, danach, „wie ich den Augenblick verstehe“189, wäh-
rend der ßioc üeopriTixoc sich auf das zeitlos Notwendige richtet. Im
Sinne der aristotelischen Unterscheidung ist die Theologie weder eine
rein theoretische noch eine rein praktische Wissenschaft.
4. Die Wahrheit des Augenblicks
Wird die alte Unterscheidung von theoretischem und praktischem
Wissen schon durch Bultmanns formale Bestimmung des Praxisbe-
zugs der Theologie unterlaufen, so gilt das erst recht hinsichtlich der
materialen Bestimmung dessen, was für die Theologie als Praxis in
Betracht kommt. Für Aristoteles galt, wie wir sahen, daß die prakti-
schen Wissenschaften ihr teäo«; im epyov haben. Für Bultmann besteht
der Praxisbezug der Theologie in der Ermöglichung eines dem
Kerygma entsprechenden neuen Verstehens meiner selbst im jeweili-
gen Augenblick. Die Kategorie des Augenblicks hat für ihn nicht etwa
deshalb besonderes Gewicht, weil sie im Sinne der Schleiermacher-
schen Rezeption des platonischen E^aüpvric; die Unsterblichkeit als
„ewig sein in einem Augenblick“190 zu denken erlaubt, sondern weil sie
die Zeit des Menschen zur Entscheidungszeit qualifiziert.
Wird das Jetzt „im Glauben... so, wie es wirklich ist“191, verstanden,
dann ruft es den Menschen zu einer ganz bestimmten Entscheidung,
nämlich zu der Entscheidung, sich nicht aus der schon immer vom

190 F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Veräch-
tern, hg. von H.-J. Rothert, PhB 255, 1958, 74.
191 R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, 202.
 
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