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Jüngel, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 1. Abhandlung): Glauben und Verstehen: zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns; vorgetragen am 20. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47815#0030
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Eberhard Jüngel

müssen, „für welche das Wahrsein behauptet wird“40. Das im Lebens-
verhältnis präsente Wissen artikuliert sich zwar ebenfalls sprachlich,
z.B. in Handlungsanweisungen, aber es hat nicht durchgehend die
Gestalt von Aussagen, für welche das Wahrsein behauptet wird. „Das
Wissen selbst aber bewegt sich nicht in Antwort und Anrede, sondern
in allgemeinen Sätzen. Denn das Wahrheitskriterium ist nicht im indi-
viduellen subjektiven Verhältnis zum Gegenstand gegeben, sondern
im Gegenstand selbst“41. Indem das Wissen die Gestalt von Sätzen
annimmt - Bultmann spricht von einer Ausbildung des Wissens bzw.
Verstehens*2 wird es kontradiktionsfähig, und die dem Wissen durch
Wissenschaft zuteil werdende Förderung ist nicht zuletzt die Herstel-
lung und Steigerung seiner Kontradiktionsfähigkeit. Die Kontradiktions-
möglichkeit gilt nicht nur Jeder anderen Betrachtungsweise, die das
gleiche beansprucht“43, sondern ebenso dem Vorverständnis und dem
mit ihm gegebenen Selbstverständnis, das auf diese Weise zum Gegen-
stand der Kritik wird.
Letzteres ist nach Bultmann in besonderer Weise Aufgabe der Philo-
sophie und Theologie. Die Aufgabe der Philosophie wird - in einer für
Bultmanns Heidegger-Rezeption typischen und für ihn als Theologen
wohl unerläßlichen Engführung, die auf ein von Heidegger bekämpftes
Mißverständnis von Sein und Zeit hinausläuft44 - dahin angegeben,
40 H. Scholz, Wie ist eine evangelische Theologie als Wissenschaft möglich?, ZZ 9,1931,
8-53; neu abgedruckt in: Theologie als Wissenschaft. Aufsätze und Thesen, hg. und
eingel. von G. Sauter, ThB 43, 1971, 221-264, 231.
41 R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, 44.
42 Vgl. z.B. aaO. 160: „Eben die Ausbildung dieses [im Lebensverhältnis zum Gegen-
stand enthaltenen] Verstehens ist die Aufgabe der Wissenschaft“.
43 AaO. 197.
44 Heidegger hat sich schon in seinem 1929 erschienenen Buch Kant und das Problem
der Metaphysik (21951, 21 lf.) gegen das anthropologische Mißverständnis von Sein
und Zeit verwahrt. Doch Bultmann hat die Daseinsanalytik von Sein und Zeit immer
als Fundamentalanthropologie aufgefaßt und die fundamentalontologische In-
tention Heideggers, der Frage nach dem Sein den Boden zu bereiten, im Grunde
ignoriert. Inwieweit er gerade dadurch die Freiheit der Theologie gegenüber einer
drohenden babylonischen Gefangenschaft im „Hause des Seins“ gewahrt hat, darf
zumindest gefragt werden. Daß diese Philosophie heidnisch sein könnte, „nicht
obwohl, sondern weil auch sie von Ruf und Selbstoffenbarung und sogar vom Hir-
ten spricht“ (H. Jonas, Heidegger und die Theologie, EvTh 24, 1964, 621-642,
630f.), das dürfte Bultmann durchaus bewußt gewesen sein. Er wußte sehr wohl,
„daß die Aufmerksamkeit der Theologie auf die Philosophie eine höchst zwei-
schneidige Sache ist“ (R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, 205). Heidegger hat
seinerseits unmißverständlich erklärt, daß das „eigentümliche Verhältnis“ von Philo-
 
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