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Jüngel, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 1. Abhandlung): Glauben und Verstehen: zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns; vorgetragen am 20. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47815#0060
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Eberhard Jüngel

weder-Oder das Wort zu reden. Doch der Schein trügt. Sowohl
Luthers als auch Bultmanns Verständnis der Theologie als praktischer
fugt sich der geläufigen Alternative von praktisch und theoretisch
nicht.
Darauf weisen bei Luther bereits so merkwürdige Wendungen hin
wie: „Das ist aber die wahre spekulative [Wissenschaft der Theologen],
die viel mehr praktische“ Wissenschaft ist176. Oder: „Wer heilsam von
Gott denken oder spekulieren will.. ,“177 Oder: „Jenes Erfassen Christi
durch den Glauben ist das eigentliche spekulative Leben“1'8. „Eine
recht verstandene theologia speculativa wäre dann mit dem identisch,
was Luther meint, wenn er von theologia practica spricht“179. Inwiefern
Luther freilich die so emphatisch als praktisch gekennzeichnete Theo-
logie die rechte spekulative Theologie nennen kann, gilt es zu klären.
Die Möglichkeit der nur scheinbar paradoxen Auffassung wird einsich-
tig, wenn man sich dessen erinnert, daß nach Aristoteles das teäo«; der
theoretischen Wissenschaft die Wahrheit ist, das teäo^ der praktischen
Wissenschaft aber das Werk180. Für Luther zielt nun aber gerade die
emphatisch als praktisch gekennzeichnete Theologie auf Wahrheit,
während sie das menschliche Werk in einem präzisen Sinne - nämlich

Bedeutung von üewpia in Erinnerung rufen müssen. Dann ist es ausgeschlossen,
das theoretische Wissen als das Ergebnis einer objektivierenden Distanznahme zu
kennzeichnen (wozu auch Bultmann neigt). Man wird sich dann „an den Begriff der
sakralen Kommunion erinnern, wie sie dem ursprünglichen griechischen Begriff der
Theoria zugrunde liegt. Theoros heißt bekanntlich der Teilnehmer an einer Festge-
sandtschaft. Teilnehmer an einer Festgesandtschaft haben keine andere Qualifika-
tion und Funktion als dabei zu sein ... Theoria ist wirkliche Teilnahme, kein Tun,
sondern ein Erleiden (Pathos), nämlich das hingerissene Eingenommensein vom
Anblick“ (JEL-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophi-
schen Hermeneutik, 41975, 118). Thomas einen intellektualistischen Theologiebe-
griff zu unterstellen, verbietet sich schon von diesem Verständnis des Status theore-
tischer Erkenntnis her.
176 M. Luther, WA.TR 1, 302, 33f. (Nr. 644): „Hoc autem est vera speculativa [scientia
theologorum], quae plus est practica ...“; vgl. WA.TR 1, 72, 32 (Nr. 153).
177 M. Luther, WA.B 1, 329, 50f. (Nr. 145): „... quicumque velit salubriter de Deo cogi-
tare aut speculari ...“
178 M. Luther, Galaterbriefvorlesung, Druckbearbeitung 1535, WA 40.1, 447, 16-20:
„... illa apprehensio Christi per fidem proprie est Speculativa vita (de qua Sophistae
multa nugantur; sed quid dicant, nesciunt). Et illa speculatio qua Christus appre-
henditur, non est illa Sophistarum et Monachorum stulta imaginatio in mirabilibus
supra se ..." Vgl. WA 40.3, 152, 10-17.
179 G. Ebeling, Lehre und Leben in Luthers Theologie, Rheinisch-Westfalische Akade-
mie der Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Vorträge G 270, 1984, 27f.
180 Aristoteles, Metaphysik 993b 20f.
 
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