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Jüngel, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 1. Abhandlung): Glauben und Verstehen: zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns; vorgetragen am 20. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47815#0065
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Glauben und Verstehen

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ten ontologischen Primat der Wirklichkeit vor der Möglichkeit und die
in der „klassischen Metaphysik“ übliche Herabsetzung des Möglichen
zu einem ens debilissimum19d im Anschluß an die eher im Verborge-
nen wirkenden Auffassungen des Cusanus, Schellings und Kierke-
gaards mit Heidegger und auch Bloch den ontologischen Primat der
Möglichkeit vor der Wirklichkeit vertritt und dementsprechend vom
Menschen sagen kann, er sei, „als existierende Transzendenz über-
schwingend in Möglichkeiten, ein Wesen der Feme“195 196 197.
Ist das menschliche Dasein wesentlich ein „freies Seinkönnen“, als
solches aber schon immer, wie Heidegger sich 1929 ausdrückt, „unter
das Seiende geworfen“'91, dann ist in der Tat dasjenige Selbstverständ-
nis, in dem der Mensch sein „freies Seinkönnen“ gewinnt, das dem
Wesen des Menschen entsprechende und also sein wahres Selbstver-
ständnis.
Zu einem derartigen Sich-Verstehen kommt es aber nach Bultmann
nur, wenn der Mensch sich nicht aus dem versteht, was er tut, sondern
aus dem, was er - im Glauben an das ihn auf sein Seinkönnen anspre-
chende und zu seinem Seinkönnen freisprechende Wort Gottes -
hört. Würde er sich aus seinem eigenen Tun verstehen, dann wäre der
Mensch identisch mit der Summe seiner Werke und insofern wäre sein
Sein durch seine Vergangenheit definiert. Hörend vermag der Mensch
hingegen sich aus dem zu verstehen, was nicht sein Werk ist, sondern
was ihm von einem Jenseits seiner selbst als Möglichkeit zugesprochen
wird und deshalb zukommt.
Auch Heidegger hat deshalb „das Hörenkönnen in die Feme“ als
Bedingung dafür genannt, daß im Menschen „die wahre Nähe zu den
Dingen ins Steigen“ kommt198. Bultmann hat aber in größter Nachbar-
schaft zu den Gedanken Heideggers nun doch darin einen tiefgreifen-
den Unterschied gesehen und geltend gemacht, daß der Glaube nicht
in eine unbestimmte Ferne, sondern auf das dem Menschen in Gestalt
eines bestimmten Wortes nahe kommende, das Diesseits neu qualifizie-
rende Jenseits hört. Das Nahekommen des Jenseits wird in biblischer
Terminologie alsNün ntny bezeichnet, wobei der neue Äon „als
195 Vgl. B. Lakebrink, Klassische Metaphysik. Eine Auseinandersetzung mit der exi-
stentialen Anthropozentrik, 1967, 76.
196 M. Heidegger, Vom Wesen des Grundes [1929], in: Wegmarken, Gesamtausgabe 9,
1976, 123-175, 175.
197 Ebd.
198 Ebd.
 
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