Metadaten

Jüngel, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 1. Abhandlung): Glauben und Verstehen: zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns; vorgetragen am 20. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47815#0085
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Glauben und Verstehen

75

formuliert sind oder wenigstens nachträglich interpretierbar sein müs-
sen“261. Und wie seine Entmythologisierungsforderung überdeutlich
gezeigt hat, soll die Theologie nach seinem Urteil - in einer freilich ein-
geschränkten Weise - auch dem Kontrollierbarkeitspostulat genügen,
das die Nachprüfbarkeit des Wahrheitsanspruchs ihrer Sätze fordert
und darunter zunächst dies begreift, daß die Sätze einer Wissenschaft
„von einem hinlänglich aufmerksamen Leser oder Hörer überhaupt
verstanden werden können“262.
Problematisch wird die Forderung des Kontrollierbarkeitspostulats
im Blick auf die Theologie für Bultmann - übrigens ebenso wie für
Scholz - allerdings, insofern deren Sätze als Sätze des Glaubens einen
Wahrheitsanspruch im Blick auf Gegenstände erheben, die außerhalb
des Glaubens überhaupt nicht zugänglich sind. Formulieren theolo-
gische Sätze ein (eschatologisch) neues Selbstverständnis, dann ist ihr
Wahrheitsanspruch auch nur für den kontrollierbar, der an diesem
neuen Selbstverständnis partizipiert. Für ihn muß er allerdings, wie
auch Bultmann herausgestellt hatte, kontrollierbar sein. Ist doch die
neue personale Identität des Glaubenden zugleich eine soziale Identi-
tät, die sich als Kirche realisiert. Theologische Sätze müssen sich der
christlichen Gemeinde als wahr erweisen.
Sie können das aber nur, sofern sie sich auf das christliche Kerygma
und seinen in keiner Weise mehr kontrollierbaren Wahrheitsanspruch
zurückführen lassen. Das christliche Kerygma ist in den neutestament-
lichen Schriften auf ursprüngliche Weise bezeugt. Theologische Sätze
müssen also dem Kriterium der Schriftgemäßheit genügen, wenn sie
innerhalb der christlichen Kirche und vor dem Gewissen des Glauben-
den als wahr sollen gelten können. Und sie haben darüber hinaus ein
pragmatisches Kriterium darin, daß sie ihrer Intention nach auf die För-
derung des Glaubens bedacht sein müssen.
Der Wahrheitsanspruch des Kerygmas selber aber entzieht sich dem
Kontrollierbarkeitspostulat. Im Blick auf den im christlichen Kerygma
erhobenen Anspruch auf Wahrheit nach Beweisen suchen zu wollen,
wäre ein Zeichen jener ärcaiÖEvoia, die nach Aristoteles263 nicht zu

261 AaO. 256.
262 Ebd.
263 Aristoteles, Metaphysik 1006a 6ff.: eoti yap axaiöevata tö |j.f| yiyvwaxeiv rivov öei
Gyceiv änoöei^iv xai tivwv ob öei.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften