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Geyer, Dietrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 2. Abhandlung): Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte: vorgetragen am 27. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47816#0012
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Dietrich Geyer

ihrer ^stabilisierten Zunft mit Gedenksitzungen und Festschriften
begangen.12
Mit der Wende an der „historischen Front“ kam Folgenreiches in
Gang: Die bis dahin vorherrschende marxistische Historikerschule
wurde als Irrweg verworfen, später dann sogar antimarxistischer, anti-
leninistischer und halbtrotzkistischer Gesinnung angeklagt. Das Haupt
dieser Schule war der 1932 verstorbene M. N. Pokrovskij, ein auch in
deutschen Fachkreisen bekannter Veteran der bolschewistischen Par-
tei.13 Seine zahlreichen, damals durchweg blutjungen Schüler hatten
erst wenige Jahre vorher die Plätze der in die Verbannung geschickten
„bürgerlichen Professoren“ eingenommen. Jetzt traf sie der Vorwurf,
die Geschichte in einem platten Soziologismus aufgelöst, nichts als
„abstrakte Definitionen sozialökonomischer Formationen“ geboten
und das vorrevolutionäre Rußland als einen Hort der Barbarei und
Unkultur geschmäht zu haben. Pokrovskij, hieß es, habe sich sogar zu
„antivölkischen Häresien“ verstiegen und behauptet, in den Adem des
großrussischen Volkes flösse mehr als achtzig Prozent finnischen
Bluts.14 In der Folgezeit wurden solche Anschuldigungen ausgedehnt
und zugespitzt. Nun galt es, die Vergangenheit mit positiven Werten,
patriotischen Gefühlen und heroischen Taten vollzustellen. Auf die
„fortschrittlichen“ Züge der Vaterländischen Geschichte kam es an.
Selbst die Taufe Altrußlands und die Rolle der Klöster gehörten jetzt
dazu.15
Die Frage nach den Ursachen und Motiven, die der patriotischen
Neuorientierung zugrunde lagen, läßt sich hier nur streifen. Sicher ist,
daß es schwerwiegende innenpolitische Anlässe gab. Die Parteifüh-
12 Die Festschrift der Moskauer Historischen Fakultät: Istoriceskaja nauka v Moskovs-
kom universitete, 1934-1984, Moskau 1984, ein paralleler Bericht für Leningrad:
Voprosy istorii istoriceskoj nauki. Sbornik statej, Leningrad 1984.
13 VgL den Nachruf von Otto Hoetzsch, Über die Bedeutung Pokrovskijs, in: Zeit-
schrift für osteuropäische Geschichte 6. 1932, S. 535-552; Fritz T. Epstein, Die mar-
xistische Geschichtswissenschaft in der Soviet-Union seit 1927; in: Jahrbuch für
Kultur und Geschichte der Slaven N. F. 6.1930, S. 78-203, neuerdings John Barber,
Soviet Historians in Crisis 1928-1932, University of Birmingham 1981. Die sowje-
tische Interpretation nach der Rehabilitierung Pokrovskijs und seiner Schüler bei 0.
D. Sokolov, M. N. Pokrovskij i sovetskaja istoriceskaja nauka, Moskau 1970, ferner
A. A. Govorkov, N. M. Pokrovskij o predmete istoriceskoj nauki, Tomsk 1976.
14 Pravda, 28.3.1937, zit. bei Oberländer, Sowjetpatriotismus, S. 154.
15 VgL den Beschluß der Jury der Regierungskommission für den Wettbewerb um das
beste Lehrbuch zur Geschichte der UdSSR für die 3. und 4. Klasse der Mittelschule,
in: Pravda, 22.8.1937, zit. bei Oberländer, S. 148-153.
 
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