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Dietrich Geyer
sische Kultur - die historisch „höhere Kultur“: das repetiert, wie her-
auszuhören ist, die Rechtfertigungen der klassischen europäischen
Kolonialpolitik und schreibt sie fort bis in die Gegenwart.
Vaterländische Geschichte als russisch bestimmte Reichsge-
schichte: In ihr vollziehen sich die Macht- und Staatsgeschichte und die
Geschichte der Klassenkämpfe gleichermaßen. Was abseits davon
liegt, ist peripher, wird entpolitisiert, ist Nationalgeschichte aufs Kulis-
senhafte, Regionale, Antiquarische, oft auch aufs bloß Folkloristische
zurückgeschraubt. Quantitativ sind der Geschichte provinzialer Bin-
nenwelten keine engen Grenzen gesetzt. Die Produktion historiogra-
phischer Literatur über nichtrussische Themenbereiche in Russisch
und - mit abnehmender Tendenz - in nichtrussischen Sprachen ist
groß, ihre Qualität mitunter nicht schlechter als im Zentrum, zumal in
hochspezialisierten Studien etwa agrargeschichtlicher oder historisch-
demographischer Art.41 Die Hegemonie des Zentrums aber bleibt im
Rahmen der Vaterländischen Geschichte unbestritten. Sie ist nicht
allein eine Sache des richtigen Bewußtseins. Längst hat sie sich auch
institutionell verfestigt und ist in die Organisationsstruktur der histori-
schen Forschung eingegangen.
Geschichte als Betrieb und als Beruf
Der zweite Abschnitt dieses Berichts fragt nach der Vaterländischen
Geschichte als Organisation und als Beruf. Der Forschungs-, Lehr- und
Erziehungsbetrieb der Historiker ist in der Sowjetuntion, der Verfas-
sungslage entsprechend, von jeher eine staatliche Veranstaltung. Dabei
stand und steht die dominierende Position Moskaus außer Frage. Das
S. S. Chromov, Veduscij klass sovetskogo obscestva, in: Voprosy istorii 1983/12, S.
3-18.
41 A. Martiny (Anm. 32), vgl. als Beispiel qualifizierter Kooperation auf dem Gebiet
der vergleichenden agrargeschichtlichen Forschung: Ezegodnik po agramoj istorii
Vostocnoj Evropy, Tallinn u.a. 1958-1974, 13 Bde. Überregionales Ansehen
genießt etwa auch das „Zentrum für historiographiegeschichtliche und methodolo-
gische Forschungen“ an der Tomsker Universität. Diese überaus regsame Arbeits-
gruppe braucht den Qualitätsvergleich mit den Moskauer Akademieinstituten nicht
zu scheuen. Unter den Kandidatendissertationen, die in Tomsk zur Zeit entstehen,
sind Untersuchungen über Droysen, Dilthey und Theodor Mommsen. Besondere
Aufmerksamkeit verdient die inzwischen auf sechzehn Bände angewachsene Reihe
„Metodologiceskie i istoriograficeskie voprosy istoriceskoj nauki“ (Tomsk 1963-
1982).
Dietrich Geyer
sische Kultur - die historisch „höhere Kultur“: das repetiert, wie her-
auszuhören ist, die Rechtfertigungen der klassischen europäischen
Kolonialpolitik und schreibt sie fort bis in die Gegenwart.
Vaterländische Geschichte als russisch bestimmte Reichsge-
schichte: In ihr vollziehen sich die Macht- und Staatsgeschichte und die
Geschichte der Klassenkämpfe gleichermaßen. Was abseits davon
liegt, ist peripher, wird entpolitisiert, ist Nationalgeschichte aufs Kulis-
senhafte, Regionale, Antiquarische, oft auch aufs bloß Folkloristische
zurückgeschraubt. Quantitativ sind der Geschichte provinzialer Bin-
nenwelten keine engen Grenzen gesetzt. Die Produktion historiogra-
phischer Literatur über nichtrussische Themenbereiche in Russisch
und - mit abnehmender Tendenz - in nichtrussischen Sprachen ist
groß, ihre Qualität mitunter nicht schlechter als im Zentrum, zumal in
hochspezialisierten Studien etwa agrargeschichtlicher oder historisch-
demographischer Art.41 Die Hegemonie des Zentrums aber bleibt im
Rahmen der Vaterländischen Geschichte unbestritten. Sie ist nicht
allein eine Sache des richtigen Bewußtseins. Längst hat sie sich auch
institutionell verfestigt und ist in die Organisationsstruktur der histori-
schen Forschung eingegangen.
Geschichte als Betrieb und als Beruf
Der zweite Abschnitt dieses Berichts fragt nach der Vaterländischen
Geschichte als Organisation und als Beruf. Der Forschungs-, Lehr- und
Erziehungsbetrieb der Historiker ist in der Sowjetuntion, der Verfas-
sungslage entsprechend, von jeher eine staatliche Veranstaltung. Dabei
stand und steht die dominierende Position Moskaus außer Frage. Das
S. S. Chromov, Veduscij klass sovetskogo obscestva, in: Voprosy istorii 1983/12, S.
3-18.
41 A. Martiny (Anm. 32), vgl. als Beispiel qualifizierter Kooperation auf dem Gebiet
der vergleichenden agrargeschichtlichen Forschung: Ezegodnik po agramoj istorii
Vostocnoj Evropy, Tallinn u.a. 1958-1974, 13 Bde. Überregionales Ansehen
genießt etwa auch das „Zentrum für historiographiegeschichtliche und methodolo-
gische Forschungen“ an der Tomsker Universität. Diese überaus regsame Arbeits-
gruppe braucht den Qualitätsvergleich mit den Moskauer Akademieinstituten nicht
zu scheuen. Unter den Kandidatendissertationen, die in Tomsk zur Zeit entstehen,
sind Untersuchungen über Droysen, Dilthey und Theodor Mommsen. Besondere
Aufmerksamkeit verdient die inzwischen auf sechzehn Bände angewachsene Reihe
„Metodologiceskie i istoriograficeskie voprosy istoriceskoj nauki“ (Tomsk 1963-
1982).