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Geyer, Dietrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 2. Abhandlung): Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte: vorgetragen am 27. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47816#0014
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Dietrich Geyer

schwarzlackiertem Papiermache, ließ die Metamorphose der Heiligen-
figuren nun einen Rotarmisten mit überschlanken Gliedern und zarten
Bewegungen entstehen, der im Gestus des Erzengels Michael seinen
Feldstecher zierlich auf ein Flugzeug in den Wolken richtet, umgeben
von einem Tank, einem Traktor und einer Girlande elektrischer, den
Namen Lenins tragender Glühbirnen.18
Ein anderer Grund, der die Rekonstruktion der Vaterländischen
Geschichte nahelegte, war in den dreißiger Jahren zweifellos die in-
ternationale Lage: der Zerfall des Versailler Systems, das Aufkommen
des aggressiven Nationalsozialismus, das Selbstgefühl faschistischer
und autoritärer Staaten, nicht zuletzt die wachsende Insekurität und
Kriegsgefahr. Mit der patriotischen Grundierung der Geschichte paßte
sich die Sowjetunion internationalen Konditionen an, zumal dem auf-
schießenden Nationalismus ihrer Partner und Gegner im Staaten-
system. Auch für die Kommunistische Internationale verstand sich
nun, daß die Kommunisten überall die besten Patrioten seien, daß sie
in ihrer Anhänglichkeit an die Nation, an Volk und Vaterland von nie-
mandem zu übertreffen wären. Im übrigen ging mit der Neuausrich-
tung der Geschichtslehre die sowjetische Außenpolitik eng zusam-
men. Die UdSSR griff damals als Großmacht, als Industrie- und Mili-
tärmacht, mit neuem Gewicht in die internationalen Beziehungen ein:
seit September 1934, nach dem Scheitern der Ostpaktpläne Litvinovs
und Barthous, als Völkerbundsmitglied, seit Mai 1935 als Bündnispart-
ner Frankreichs (potentiell auch Großbritanniens), später dann, im
August 1939, mit der Kehre des Hitler-Stalin-Paktes, als Partner des
Großdeutschen Reiches.19
Fortan war auch die Außenpolitik der UdSSR in Selbstdarstellung
und Rechtfertigung patriotisch eingefärbt. Machtpolitisches Interesse
gab sich als vaterländisches Interesse aus und berief sich auf die
Geschichte, auf historisches Recht. Demgemäß wurde die Besetzung
und Angliederung Ostpolens im Herbst 1939 als „Wiedervereinigung“
getrennter Brudervölker ausgelegt, als Befreiung der von den Polen
unterdrückten „blutsverwandten ukrainischen und weißrussischen
18 Vgl. die Erinnerungen des Moskauer Korrespondenten der „Kölnischen Zeitung“
(1926-1938), Artur W. Just: Rußland in Europa. Gedanken zum Ostproblem der
abendländischen Welt, Stuttgart 1949, S. 84f.
19 Aus der Fülle der Literatur s. die Beiträge von Hans-Adolf Jacobsen und Andreas
Hillgruber in: Osteuropa-Handbuch. Bd. Sowjetunion. Außenpolitik I, 1917-1955.
Hg. von D. Geyer, Köln 1972.
 
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