Klio in Moskau
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Die Gründe sind jeweils unterschiedlich, aber sie sind doch
gleichermaßen außerwissenschaftlicher Natur. Für die Sowjetbürger
polnischer und deutscher Nationalität fehlen die Voraussetzungen
einer geschriebenen Geschichte, weil sie über kein ihnen als „Titular-
nation“ zugewiesenes Territorium verfügen, weder über eine Unions-
republik oder „Autonome Republik“, noch über ein „Autonomes
Gebiet“ (jivtonomnaja oblast') oder einen „Autonomen Gau“ (avto-
nomnyj kraj)^ Ohne diese territoriale Ausstattung gibt es kein Anrecht
auf eine Nationalgeschichte, denn die Geschichten der „Völker der
UdSSR“ werden als Territorialgeschichten, als Geschichten von verfas-
sungsmäßig verankerten Verwaltungsgebieten konzipiert. Für die
Juden existiert zwar seit 1934 ein Autonomes Gebiet mit dem Namen
Birobidzan, aber nur ein verschwindend geringer Teil der sowjetischen
Juden lebt in diesem entlegenen Landstrich unweit der chinesischen
Grenze im Chabarovskij kraj.u
Am interessantesten ist das Faktum, daß eine eigene Geschichte
Rußlands im Rahmen der Vaterländischen Geschichte fehlt. Es gibt sie
weder, worauf gewissermaßen ein verfassungsrechtlicher Anspruch
bestünde, als Geschichte der Russischen Sozialistischen Föderativen
Sowjetrepublik (RSFSR), noch gibt es sie als Geschichte des russischen
Volkes oder der russischen Nation. Dieses Fehlen verdeutlicht, daß das
russische Vaterland in der sowjetischen Reichsgeschichte aufgehoben
bleibt, ja in ihr aufgeht. Das größte Brudervolk, „das große russische
Volk“, trägt den sowjetischen Vielvölkerstaat und die Vaterländische
Geschichte auch. Die Sonderstellung der Russen zeigt sich auch darin,
daß das russische Volk im Begriff der „Völker der Sowjetunion“
33 Nach den Volkszählungsergebnissen von 1970 und 1979 gab es in der UdSSR 1,846
bzw. 1,936 Mill, sowjetische Bürger deutscher Nationalität; die entsprechenden
Daten für die Sowjetbürger polnischer Nationalität lauten 1,167 bzw. 1,151 Mill.,
vgl. Naselenie v SSSR (Anm. 30), S. 24, sowie Gerhard Simon, Russen und Nichtrus-
sen in der UdSSR. Zu den Ergebnissen der Volkszählung von 1979, in: Berichte des
Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln 11-1981,
Wolf Oschlies, Die Deutschen in der Sowjetunion. Versuch einer Bestandsauf-
nahme, ebd., 13-1983.
34 Aus der Fülle neuerer Literatur: Daniela Bland-Spitz, Die Lage der Juden und die
jüdische Opposition in der Sowjetunion 1967-1977 [Diss. St. Gallen], Diessenho-
fen 1980; besonders S. 152ff. - Im Jüdischen Autonomen Gebiet (Birobidzan) wur-
den 1970 nur 11.452 Einwohner jüdischer Nationalität gezählt, dagegen 144.286
Russen. Die Volkszählungsergebnisse von 1970 und 1979 verzeichnen für die
UdSSRim ganzen 2,151 bzw. 1,811 Mill. Bürger jüdischer Nationalität. Vgl. Nasele-
nie v SSSR, S. 24.
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Die Gründe sind jeweils unterschiedlich, aber sie sind doch
gleichermaßen außerwissenschaftlicher Natur. Für die Sowjetbürger
polnischer und deutscher Nationalität fehlen die Voraussetzungen
einer geschriebenen Geschichte, weil sie über kein ihnen als „Titular-
nation“ zugewiesenes Territorium verfügen, weder über eine Unions-
republik oder „Autonome Republik“, noch über ein „Autonomes
Gebiet“ (jivtonomnaja oblast') oder einen „Autonomen Gau“ (avto-
nomnyj kraj)^ Ohne diese territoriale Ausstattung gibt es kein Anrecht
auf eine Nationalgeschichte, denn die Geschichten der „Völker der
UdSSR“ werden als Territorialgeschichten, als Geschichten von verfas-
sungsmäßig verankerten Verwaltungsgebieten konzipiert. Für die
Juden existiert zwar seit 1934 ein Autonomes Gebiet mit dem Namen
Birobidzan, aber nur ein verschwindend geringer Teil der sowjetischen
Juden lebt in diesem entlegenen Landstrich unweit der chinesischen
Grenze im Chabarovskij kraj.u
Am interessantesten ist das Faktum, daß eine eigene Geschichte
Rußlands im Rahmen der Vaterländischen Geschichte fehlt. Es gibt sie
weder, worauf gewissermaßen ein verfassungsrechtlicher Anspruch
bestünde, als Geschichte der Russischen Sozialistischen Föderativen
Sowjetrepublik (RSFSR), noch gibt es sie als Geschichte des russischen
Volkes oder der russischen Nation. Dieses Fehlen verdeutlicht, daß das
russische Vaterland in der sowjetischen Reichsgeschichte aufgehoben
bleibt, ja in ihr aufgeht. Das größte Brudervolk, „das große russische
Volk“, trägt den sowjetischen Vielvölkerstaat und die Vaterländische
Geschichte auch. Die Sonderstellung der Russen zeigt sich auch darin,
daß das russische Volk im Begriff der „Völker der Sowjetunion“
33 Nach den Volkszählungsergebnissen von 1970 und 1979 gab es in der UdSSR 1,846
bzw. 1,936 Mill, sowjetische Bürger deutscher Nationalität; die entsprechenden
Daten für die Sowjetbürger polnischer Nationalität lauten 1,167 bzw. 1,151 Mill.,
vgl. Naselenie v SSSR (Anm. 30), S. 24, sowie Gerhard Simon, Russen und Nichtrus-
sen in der UdSSR. Zu den Ergebnissen der Volkszählung von 1979, in: Berichte des
Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln 11-1981,
Wolf Oschlies, Die Deutschen in der Sowjetunion. Versuch einer Bestandsauf-
nahme, ebd., 13-1983.
34 Aus der Fülle neuerer Literatur: Daniela Bland-Spitz, Die Lage der Juden und die
jüdische Opposition in der Sowjetunion 1967-1977 [Diss. St. Gallen], Diessenho-
fen 1980; besonders S. 152ff. - Im Jüdischen Autonomen Gebiet (Birobidzan) wur-
den 1970 nur 11.452 Einwohner jüdischer Nationalität gezählt, dagegen 144.286
Russen. Die Volkszählungsergebnisse von 1970 und 1979 verzeichnen für die
UdSSRim ganzen 2,151 bzw. 1,811 Mill. Bürger jüdischer Nationalität. Vgl. Nasele-
nie v SSSR, S. 24.