Klio in Moskau
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Ähnlichen Maßstäben folgt auch die Bewertung, die der nationale
Widerstand, gar der Aufstand gegen das innerstaatliche Kolonial-
regime der russischen Regierung im 19. Jahrhundert und in der
Periode des Imperialismus erfährt. So darf der Imam Samil, Symbol
des Kampfes der kaukasischen Bergstämme gegen die russische Herr-
schaft, in der Geschichte der UdSSR nicht gefeiert werden. In der Sta-
linzeit galt er sogar als englischer oder türkischer Agent. Seither spricht
man von ihm mit oberlehrerhaftem Zeigefinger, beklagt seinen religiö-
sen Fanatismus oder übergeht ihn ganz.38 Wie die Pazifizierung des
Kaukasus war auch die Unterwerfung Turkestans und der zentralasiati-
schen Stämme bis zur afghanischen Grenze hin für diese Völkerschaf-
ten kein Übel. Ja, sie war nicht einmal „das geringste Übel“ (naimen ’see
zlö), das den dort lebenden Muslimen zu wählen damals übrig blieb.
Die zaristische Kolonialpolitik hatte zwar „Unterdrückungscharakter“,
doch waren ihre Ergebnisse gleichwohl fortschrittlicher Natur. Diesen
erstaunlichen Doppelsinn kann nur begreifen, wer den „marxistisch-
leninistischen Historismus“ richtig anzuwenden versteht.39
Um den Fortschritt in der Unterdrückung zu würdigen, bedarf es,
wie man sagt, einer „dialektischen“ Erklärung: Der Anschluß an das
Zarenimperium habe diese islamischen Völker mit dem russischen
Volk zusammengeführt, habe Kampfgemeinschaft gestiftet und brü-
derliche Hilfe im Kampf gegen die soziale und nationale Unter-
drückung möglich gemacht. Die „Vereinigung“ mit Rußland habe die
Uzbeken, Turkmenen, Kirgisen, Tadziken, Kazachen usf. mit einer
höheren Kultur in Fühlung gebracht, mit einer höheren Entwicklungs-
stufe der Menschheitsgeschichte: höher deshalb, weil Rußland in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon in die Epoche des Kapitalis-
mus eingetreten war und weil die sich entwickelnde Arbeiterklasse,
geführt von der bolschewistischen Partei (mit Lenin an der Spitze), im
„gesamtrussischen Maßstab“ damals bereits die Voraussetzungen für
die sozialistische Oktoberrevolution auszubilden begann.40 Die rus-
38 L. Tillett (Anm. 5), S. 130ff.
39 Zur Traditionspflege auf dem „Fundament des marxistisch-leninistischen Historis-
mus“ vgl. neuerdings A. A. Preobrazenskij, „Pomnja svoe otecestvo... in: Voprosy
istorii 1985/1, S. 90-106.
40 Zur innersowjetischen Diskussion: Bernd Bonwetsch, Oktoberrevolution. Legiti-
mationsprobleme der sowjetischen Geschichtswissenschaft, in: Politische Viertel-
jahresschrift 17. 1976, S. 149-185. - Neuerdings neigen programmatische Erklärun-
gen dazu, die multinationale Struktur der Arbeiterklasse in Rußland herauszustel-
len; demgemäß wird von „rossijskij Proletariat“ (nicht: russkij) gesprochen, vgl. u.a.
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Ähnlichen Maßstäben folgt auch die Bewertung, die der nationale
Widerstand, gar der Aufstand gegen das innerstaatliche Kolonial-
regime der russischen Regierung im 19. Jahrhundert und in der
Periode des Imperialismus erfährt. So darf der Imam Samil, Symbol
des Kampfes der kaukasischen Bergstämme gegen die russische Herr-
schaft, in der Geschichte der UdSSR nicht gefeiert werden. In der Sta-
linzeit galt er sogar als englischer oder türkischer Agent. Seither spricht
man von ihm mit oberlehrerhaftem Zeigefinger, beklagt seinen religiö-
sen Fanatismus oder übergeht ihn ganz.38 Wie die Pazifizierung des
Kaukasus war auch die Unterwerfung Turkestans und der zentralasiati-
schen Stämme bis zur afghanischen Grenze hin für diese Völkerschaf-
ten kein Übel. Ja, sie war nicht einmal „das geringste Übel“ (naimen ’see
zlö), das den dort lebenden Muslimen zu wählen damals übrig blieb.
Die zaristische Kolonialpolitik hatte zwar „Unterdrückungscharakter“,
doch waren ihre Ergebnisse gleichwohl fortschrittlicher Natur. Diesen
erstaunlichen Doppelsinn kann nur begreifen, wer den „marxistisch-
leninistischen Historismus“ richtig anzuwenden versteht.39
Um den Fortschritt in der Unterdrückung zu würdigen, bedarf es,
wie man sagt, einer „dialektischen“ Erklärung: Der Anschluß an das
Zarenimperium habe diese islamischen Völker mit dem russischen
Volk zusammengeführt, habe Kampfgemeinschaft gestiftet und brü-
derliche Hilfe im Kampf gegen die soziale und nationale Unter-
drückung möglich gemacht. Die „Vereinigung“ mit Rußland habe die
Uzbeken, Turkmenen, Kirgisen, Tadziken, Kazachen usf. mit einer
höheren Kultur in Fühlung gebracht, mit einer höheren Entwicklungs-
stufe der Menschheitsgeschichte: höher deshalb, weil Rußland in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon in die Epoche des Kapitalis-
mus eingetreten war und weil die sich entwickelnde Arbeiterklasse,
geführt von der bolschewistischen Partei (mit Lenin an der Spitze), im
„gesamtrussischen Maßstab“ damals bereits die Voraussetzungen für
die sozialistische Oktoberrevolution auszubilden begann.40 Die rus-
38 L. Tillett (Anm. 5), S. 130ff.
39 Zur Traditionspflege auf dem „Fundament des marxistisch-leninistischen Historis-
mus“ vgl. neuerdings A. A. Preobrazenskij, „Pomnja svoe otecestvo... in: Voprosy
istorii 1985/1, S. 90-106.
40 Zur innersowjetischen Diskussion: Bernd Bonwetsch, Oktoberrevolution. Legiti-
mationsprobleme der sowjetischen Geschichtswissenschaft, in: Politische Viertel-
jahresschrift 17. 1976, S. 149-185. - Neuerdings neigen programmatische Erklärun-
gen dazu, die multinationale Struktur der Arbeiterklasse in Rußland herauszustel-
len; demgemäß wird von „rossijskij Proletariat“ (nicht: russkij) gesprochen, vgl. u.a.