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Geyer, Dietrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 2. Abhandlung): Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte: vorgetragen am 27. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47816#0038
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Dietrich Geyer

Das Verhältnis zur Geschichte mag pathetisch sein, mitunter elegisch
und sentimental, - kräftig ist die Gefühlswelt in diesem Umkreis alle-
mal. Dabei ist historisches Bewußtsein gegen die offizielle Geschichts-
propaganda durchaus nicht abgeschirmt. Bis in die private Sphäre hin-
ein wirkt der offizielle politische Code, die vorgestanzte Semantik mit
ihren Klischees und Worthülsen. Aber das Verhältnis zur Geschichte
ist doch mehr als nur ein Ergebnis des gelenkten Kultur- und Wissen-
schaftsbetriebs, mehr als das bloße Produkt ideologischer Erziehung
und Schulung. Dieses Bewußtsein kommt aus der geschichtlichen
Erfahrung der lebenden Generationen selber, und es enthält einen
Überschuß an elementarer, nichtkanalisierbarer Kraft, der Aufmerk-
samkeit verdient.
Aufschlußreich wäre zu wissen, wie die unvermittelte Beziehung
zur Geschichte und die Normen der professionellen Historie miteinan-
der kommunizieren. Wechselwirkungen gibt es zweifellos nach beiden
Richtungen hin. In nicht wenigen Fällen ist die Übereinstimmung
beträchtlich, manchmal sogar vollkommen. Vielleicht das eindrucks-
vollste Beispiel bietet der Zweite Weltkrieg, der Große Vaterländische
Krieg. Er hat mit millionenfachen Opfern, mit seiner Barbarei, aber
auch mit der Erinnerung an Heldentaten und Siege das geschichtliche
Bewußtsein der heute lebenden Generationen nachhaltiger geprägt als
jede andere erlebte Zeit, - nachhaltiger noch als die Wunden, die der
Stalinismus hinterlassen hat. Die Unmittelbarkeit der Kriegserfahrung
prägt naturgemäß vor allem die nun schon betagten Veteranen, die mit
ihren verblichenen Ordensschnallen am Jackett und Kleid im ruppigen
Klima des sowjetischen Alltags auf Respekt und Rücksichtnahme rech-
nen. Aber der Krieg wirkt doch auch im Bewußtsein derer kräftig nach,
die damals nicht dabei gewesen sind und heute nur mehr noch vor
Mahnmälern und an Gräbern stehen. Auch diesen Menschen schlägt,
wie der Zustrom zu den Gedenkstätten allerorten zeigt, der entsetzli-
che Krieg noch immer aufs Herz. Große, ins Emotionale eingelassene
Begriffe wie Heimat, Muttererde, Vaterland, ja selbst ethische Normen
und Konventionen leben vielfach ganz von der Erinnerung an diesen
Krieg. Dabei erscheinen Sieg und Befreiung vor allem als Leistung des
russischen Volkes und seiner ostslawischen Brüder, der Ukrainer und
Weißrussen.85
85 Schon das Jahr 1984 stand in der Sowjetunion ganz im Zeichen der Befreiungs- und
Siegesjubiläen; die 40-Jahresfeiern, die am 9. Mai 1985 ihren Höhepunkt erreichen,
dürften eine gesonderte Untersuchung verdienen. Auch die aus diesem Anlaß
 
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