38
Dietrich Geyer
lieh 1812, der Vaterländische Krieg, der zum Auftakt für die Befreiung
Europas von Napoleon wurde.89
Diese und viele andere denkwürdige Daten der russischen Vergan-
genheit scheinen - wie die dazugehörigen Herrscher, Heiligen und
Helden - mit dem Großen Vaterländischen Krieg in spiritueller Füh-
lung zu stehen: „In den Tagen schwerster Prüfung“, schreibt Professor
Preobrazenskij, der für den Feudalismus verantwortliche Sektionschef
im Moskauer Akademie-Institut, „als die braune Pest die ganze Welt zu
befallen drohte, rief uns das Vorbild unserer großen Vorfahren zum
Kampf im Namen der Rettung des in der Geschichte ersten Arbeiter-
und Bauemstaates, im Namen der Zukunft der gesamten Menschheit.“
Solche Blickrichtung besteht auf Kontinuität. Sie nährt den Anschein,
als ob die Geschichte vor allem zu beweisen hätte, daß Siegen und Ster-
ben fürs Vaterland den Russen von jeher heilig gewesen sei: „Das Volk
vergißt die Helden der vergangenen Tage nicht“, zumal jene nicht, die
„auf dem Felde der Ehre gefallen“ sind, im Kampf gegen Fremdherr-
schaft und Intervention, im Kampf für „die Bewahrung des einen und
unabhängigen Russischen Staates (sochranenie edinogo i nezavisimogo
Rossijskogo gosudarstva)“,90 Wer vom Westen Deutschlands her solche
Gefühle nachempfinden will, muß sich in die Vergangenheit der eige-
nen Nation zurückversetzen.
Es fallt nicht leicht, spontane und amtlich erzeugte Formen histori-
scher Erinnerung auseinanderzuhalten. Beide scheinen sich wechsel-
seitig zu stützen. Tragender Grund für das geschichtliche Bewußtsein
in der Sowjetunion ist indessen nicht allein der Krieg. Auch bildet er
nicht die einzige Berührungsfläche, auf der elementare Beziehungen
zur Geschichte sich entfalten und mit dem obrigkeitlichen Wunsch
nach Mobilisierung patriotischer Gefühle Zusammentreffen. Es gibt
andere, womöglich noch entwicklungsfähigere Bereiche, die dem Sinn
für Geschichte Auslauf bieten. Sie zeigen sich in der wachsenden
Zuwendung zu dem, was alt und überkommen ist und nun als histori-
sches Zeugnis auf Schutz und Pflege Anspruch machen kann. Tatsäch-
lich hat diese neue Sensibilität in den letzten zwanzig Jahren eine
erstaunliche Eigendynamik entfaltet.91 Ihren stärksten Ausdruck fand
89 Vorzügliches Beispiel für den traditionellen Kanon im Längsschnitt durch die Jahr-
hunderte einer heroisch verklärten Geschichte: A. A. Preobrazenskij, in: Voprosy
istorii 1985/1, S. 90-106.
90 Ebd., S. 90, 94, 98.
91 Vgl. Jack V. Haney, The Revival of Interest in the Russian Past in the Soviet Union,
in: Slavic Review 32. 1973, S. 1-16; Thomas E. Bird, New Interest in Old Russian
Dietrich Geyer
lieh 1812, der Vaterländische Krieg, der zum Auftakt für die Befreiung
Europas von Napoleon wurde.89
Diese und viele andere denkwürdige Daten der russischen Vergan-
genheit scheinen - wie die dazugehörigen Herrscher, Heiligen und
Helden - mit dem Großen Vaterländischen Krieg in spiritueller Füh-
lung zu stehen: „In den Tagen schwerster Prüfung“, schreibt Professor
Preobrazenskij, der für den Feudalismus verantwortliche Sektionschef
im Moskauer Akademie-Institut, „als die braune Pest die ganze Welt zu
befallen drohte, rief uns das Vorbild unserer großen Vorfahren zum
Kampf im Namen der Rettung des in der Geschichte ersten Arbeiter-
und Bauemstaates, im Namen der Zukunft der gesamten Menschheit.“
Solche Blickrichtung besteht auf Kontinuität. Sie nährt den Anschein,
als ob die Geschichte vor allem zu beweisen hätte, daß Siegen und Ster-
ben fürs Vaterland den Russen von jeher heilig gewesen sei: „Das Volk
vergißt die Helden der vergangenen Tage nicht“, zumal jene nicht, die
„auf dem Felde der Ehre gefallen“ sind, im Kampf gegen Fremdherr-
schaft und Intervention, im Kampf für „die Bewahrung des einen und
unabhängigen Russischen Staates (sochranenie edinogo i nezavisimogo
Rossijskogo gosudarstva)“,90 Wer vom Westen Deutschlands her solche
Gefühle nachempfinden will, muß sich in die Vergangenheit der eige-
nen Nation zurückversetzen.
Es fallt nicht leicht, spontane und amtlich erzeugte Formen histori-
scher Erinnerung auseinanderzuhalten. Beide scheinen sich wechsel-
seitig zu stützen. Tragender Grund für das geschichtliche Bewußtsein
in der Sowjetunion ist indessen nicht allein der Krieg. Auch bildet er
nicht die einzige Berührungsfläche, auf der elementare Beziehungen
zur Geschichte sich entfalten und mit dem obrigkeitlichen Wunsch
nach Mobilisierung patriotischer Gefühle Zusammentreffen. Es gibt
andere, womöglich noch entwicklungsfähigere Bereiche, die dem Sinn
für Geschichte Auslauf bieten. Sie zeigen sich in der wachsenden
Zuwendung zu dem, was alt und überkommen ist und nun als histori-
sches Zeugnis auf Schutz und Pflege Anspruch machen kann. Tatsäch-
lich hat diese neue Sensibilität in den letzten zwanzig Jahren eine
erstaunliche Eigendynamik entfaltet.91 Ihren stärksten Ausdruck fand
89 Vorzügliches Beispiel für den traditionellen Kanon im Längsschnitt durch die Jahr-
hunderte einer heroisch verklärten Geschichte: A. A. Preobrazenskij, in: Voprosy
istorii 1985/1, S. 90-106.
90 Ebd., S. 90, 94, 98.
91 Vgl. Jack V. Haney, The Revival of Interest in the Russian Past in the Soviet Union,
in: Slavic Review 32. 1973, S. 1-16; Thomas E. Bird, New Interest in Old Russian