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Geyer, Dietrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 2. Abhandlung): Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte: vorgetragen am 27. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47816#0046
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Dietrich Geyer

herrschende Ideologie zu wenden. Jedenfalls gibt es im Dissidentenmi-
lieu eine breite Skala nationalistischer Orientierungen.102 Oft stehen
diese Ansichten nicht weit ab von dem, was der amtlichen Gedanken-
polizei noch eben als tolerierbar erscheint. Sie berufen sich auf die Ein-
zigartigkeit des Russentums und der russischen Geschichte. Sie reden
stellvertretend für das Volk und haben sich, in unterschiedlicher Dosie-
rung, die imperialen, die christlichen, hier und da auch die revolutionä-
ren Traditionen Rußlands einverleibt. Der Samizdat und die „dritte
Emigration“ sind voll von solchen Stimmen - so voll, daß liberale, gar
sozialdemokratische Argumente große Mühe haben, gegen den poly-
phonen Nationalismus ihrer Landsleute aufzukommen.103
In dieser, wie man sagt: „zweiten Kultur“ sind - und dies nicht allein
dank der wirkungsmächtigen Figur Solzenicyns - Ideenrichtungen
groß geworden, die die Geistesgeschichte der vorrevolutionären Intelli-
gencija zu wiederholen scheinen.104 Slawophile und russistische Ideo-
logeme, zumal Denkmuster, die mit der Orthodoxie verklammert sind,
haben eine erstaunliche Renaissance erfahren: Russe sein, heißt
rechtgläubig sein. Dazu gehört das Anathema gegen das gottlose kom-
munistische Regime, die Inkarnation des Bösen, gegen die dem russi-
schen Wesen fremde Gewaltherrschaft. Dazu gehört aber auch die
Wendung gegen die westliche Zivilisation, gegen deren liberalistische
Schlappheit, Amoral und Morbidität. Es verwundert nicht, daß diese
heterogenen, in sich vielfach zerklüfteten (und verfeindeten) Richtun-
gen die großen Gestalten der russischen Religionsphilosophie und Kul-
turkritik aus dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert für sich in
Anspruch nehmen: von Chomjakov über Dostoevskij und Konstantin

102 Auf die Gruppierungen im Samizdat und in der Emigration gehe ich hier nicht ein,
sondern verweise auf das Buch von Dunlop.
103 Vgl. den Sammelband der russischen demokratischen Opposition: Demokraticeskie
al’temativy. Sbornik statej i dokumentov. Hg. von Vadim Belocerkovskij, Achberg
1976.
104 Die Literatur von und über Alexander Solzenicyn ist unübersehbar. Hier genüge
der Hinweis auf den auch in deutscher Übersetzung vorliegenden Aufsatzband „Iz
pod glyb“ (Paris 1974): Alexander Solschenizyn u.a., Stimmen aus dem Unter-
grund. Zur geistigen Situation in der UdSSR, Darmstadt, Neuwied 1975, sowie auf
die Kontroversen, die der Schriftsteller mit amerikanischen Historikern über die
Bewertung der russischen Geschichte ausgetragen hat: A. Solzhenitsyn, Misconcep-
tions about Russia are a Threat to America, in: Foreign Affairs 58. 1979/80, S. 797-
834, mit der sich anschließenden Debatte, ebd. 58.1979/80, S. 1178-1184,59.1980/
81, S. 187-210.
 
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