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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0052
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Hans Robert Jauss

In der Ferne zittert ein Geläute dünn,
Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.
Das Ereignis von 1914 hat - auch wenn es Marinetti nicht wahrhaben
wollte - die ‘Ästhetik des Krieges’ auf die blutrünstigste Weise demen-
tiert, wie andererseits die revolutionäre Naherwartung der Avantgar-
den nach 1918, die Welt durch eine Politisierung der Ästhetik zu
erneuern, durch den Gang der Geschichte Lügen gestraft wurde. Apol-
linaire, der diesem Aufbruch der zweiten, surrealistischen Avantgarde
noch den Namen gab, doch gewiß ohne an die Strategie einer „action
directe“ zu denken, läßt in seiner Hoffnung auf eine ‘vollständigere
Kunst’ wie auch in den Verirrungen seiner Kriegsdichtung aus der heu-
tigen Rückschau einen übermächtigen Stammvater der ästhetischen
Moderne erkennen, dem gewiß auch der Surrealismus mit seinem Pro-
jekt des „direkt negativen Gesamtkunstwerks“ (O. Marquard) ver-
pflichtet ist: Friedrich Nietzsche. Sein berühmter Satz: „daß nur als
ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt sei“, stand
Pate, als das Epochenbewußtsein der ästhetischen Avantgarden vor
und nach dem Ersten Weltkrieg in ideologische Verblendung
umschlug. Wie sich die verworfene Geschichte und die verleugnete
Natur in der Folgezeit zu rächen wußten und warum wir heute auf-
gerufen sind, Nietzsches fatalem Satz entschieden zu widersprechen,
bedarf in der gegenwärtigen Stunde, vor dem Endspiel unseres Jahr-
hunderts, gewiß keiner Erläuterung mehr.
 
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