Eine wiederentdeckte „Verkündigung Mariä1
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Die Verkündigung als eines der zentralen Ereignisse des Marienlebens
inspirierte Künstler zu Bilderfindungen, die als Sonderleistungen nicht
nur der sienesischen Malerei gelten dürfen. Es genügt, an Simone
Martinis Verkündigungskomposition von 1333 in den Uffizien zu erin-
nern. Innerhalb des Bilderkosmos von Duccios „Maestä“ kommt der
Verkündigung noch keine herausgehobene Position zu; vielmehr lei-
tete sie nach dem Stande unseres Wissens die Reihe der Episoden aus
der Kindheitsgeschichte Christi in der Predella unter dem Hauptbild
ein. Dagegen ist die Verkündigungsszene bei Pietro Lorenzettis 1320
gemaltem Polyptychon in der Pieve S. Maria zu Arezzo30 in die Haupt-
achse und nach oben gerückt, nämlich über das Bild der Madonna mit
dem Kinde. Lorenzetti separiert den Engel von der etwas erhöht in
ihrem Gemach sitzenden Maria durch eine türdurchbrochene Wand
und unterstreicht diese Gliederung durch eine doppelte Arkade, bei
der gemalte Bildarchitektur und hölzernes Rahmenwerk in eine
bemerkenswerte illusionistische Beziehung treten. Über der Verkün-
digungstafel erhebt sich ein weiterer Aufsatz mit der Darstellung der
Assunta in der Seraphimglorie, so daß sich das gesamte, figurenreiche
Polyptychon um eine betonte marianische Mittelachse gruppiert. Das
wohl zwischen 1335 und 1340 entstandene sogenannte „Polittico di S.
Giusto“ in der Sieneser Pinakothek31 wiederholt im Prinzip den Auf-
bau des Aretiner Retabels. Wenn sich auch nicht alle Tafeln mit
Sicherheit Pietro selbst zuschreiben lassen, so ist an der Eigenhändig-
keit der wiederum durch eine Bogenstellung zweigeteilten Verkündi-
gungsdarstellung nicht zu zweifeln. Die heilige Begebenheit spielt sich
dieses Mal in einem einheitlichen, verblüffend wirkungsvoll verkürz-
ten Innenraum ab, den der Engel durch die links sichtbare Tür betre-
ten hat. Bei beiden Lorenzetti-Polyptychen ist das Verkündigungs-
kompartiment - oder richtiger: -doppelkompartiment - jeweils
szenisch-dramatischer Gegenpol der repräsentativen Einzelfiguren.
In der zweiten Trecentohälfte und in den ersten beiden Dritteln des
Quattrocento begegnen Verbildlichungen der Verkündigung Mariä in
den verschiedensten Spielarten auf Sieneser Altären. Als Exempel
seien die Bekrönungstafeln des spätgotisch-üppigen Retabels von
30 Vgl. Anna Maria Maetzke (Hrsg.): Arte nell’Aretino, seconda mostra di restauri dal
1975 al 1979, Florenz 1979, S. 26ff. (Kat.-Nr. 5); Rekonstruktion (mit Predella, seit-
lichen Pfeilern und Fialen): S. 34; Bibliographie: S. 35.
31 Vgl. Piero Torriti, a.a.O., S. 105 f. (mit Bibliographie); die Bekrönungstäfelchen des
Retabels sind verloren.
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Die Verkündigung als eines der zentralen Ereignisse des Marienlebens
inspirierte Künstler zu Bilderfindungen, die als Sonderleistungen nicht
nur der sienesischen Malerei gelten dürfen. Es genügt, an Simone
Martinis Verkündigungskomposition von 1333 in den Uffizien zu erin-
nern. Innerhalb des Bilderkosmos von Duccios „Maestä“ kommt der
Verkündigung noch keine herausgehobene Position zu; vielmehr lei-
tete sie nach dem Stande unseres Wissens die Reihe der Episoden aus
der Kindheitsgeschichte Christi in der Predella unter dem Hauptbild
ein. Dagegen ist die Verkündigungsszene bei Pietro Lorenzettis 1320
gemaltem Polyptychon in der Pieve S. Maria zu Arezzo30 in die Haupt-
achse und nach oben gerückt, nämlich über das Bild der Madonna mit
dem Kinde. Lorenzetti separiert den Engel von der etwas erhöht in
ihrem Gemach sitzenden Maria durch eine türdurchbrochene Wand
und unterstreicht diese Gliederung durch eine doppelte Arkade, bei
der gemalte Bildarchitektur und hölzernes Rahmenwerk in eine
bemerkenswerte illusionistische Beziehung treten. Über der Verkün-
digungstafel erhebt sich ein weiterer Aufsatz mit der Darstellung der
Assunta in der Seraphimglorie, so daß sich das gesamte, figurenreiche
Polyptychon um eine betonte marianische Mittelachse gruppiert. Das
wohl zwischen 1335 und 1340 entstandene sogenannte „Polittico di S.
Giusto“ in der Sieneser Pinakothek31 wiederholt im Prinzip den Auf-
bau des Aretiner Retabels. Wenn sich auch nicht alle Tafeln mit
Sicherheit Pietro selbst zuschreiben lassen, so ist an der Eigenhändig-
keit der wiederum durch eine Bogenstellung zweigeteilten Verkündi-
gungsdarstellung nicht zu zweifeln. Die heilige Begebenheit spielt sich
dieses Mal in einem einheitlichen, verblüffend wirkungsvoll verkürz-
ten Innenraum ab, den der Engel durch die links sichtbare Tür betre-
ten hat. Bei beiden Lorenzetti-Polyptychen ist das Verkündigungs-
kompartiment - oder richtiger: -doppelkompartiment - jeweils
szenisch-dramatischer Gegenpol der repräsentativen Einzelfiguren.
In der zweiten Trecentohälfte und in den ersten beiden Dritteln des
Quattrocento begegnen Verbildlichungen der Verkündigung Mariä in
den verschiedensten Spielarten auf Sieneser Altären. Als Exempel
seien die Bekrönungstafeln des spätgotisch-üppigen Retabels von
30 Vgl. Anna Maria Maetzke (Hrsg.): Arte nell’Aretino, seconda mostra di restauri dal
1975 al 1979, Florenz 1979, S. 26ff. (Kat.-Nr. 5); Rekonstruktion (mit Predella, seit-
lichen Pfeilern und Fialen): S. 34; Bibliographie: S. 35.
31 Vgl. Piero Torriti, a.a.O., S. 105 f. (mit Bibliographie); die Bekrönungstäfelchen des
Retabels sind verloren.