Die Entstehung der historischen Biographie
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dungszusammenhang der auf Vollständigkeit angelegten Darstellung der Ereig-
nisse und soll sich deshalb vom Enkomion mit seiner αυξησις unterscheiden (Pol.
10, 21,8; cf. Cic. de or. 2,63), er dient zum anderen der moralischen Belehrung
(έπανόρϋωσις) des Lesers (Pol. 10, 21,3) und kann sich insofern dem Enkomion
nähern. Gerade die Funktionsbeschreibung, die Polybios für die in der Geschichts-
schreibung verwendeten biographischen Elemente gibt, beleuchtet also den für ihn
bestehenden Unterschied zwischen biographisch-enkomiastischem und histori-
schem Bericht. Ihm liegt es fern, mit dem Verfasser der pseudodionysischen
Rhetorik (11,2 p. 376 Usener-Radermacher) die ganze Geschichtsschreibung als
„(Moral)philosophie mit Hilfe von Beispielen“ zu definieren.
Daß Polybios mit dem Verweis auf die έπανόρϋωσις des Lesers dem biographi-
schen Exkurs im Geschichtswerk die gleiche Funktion zuweist, die für die bio-
graphische Literatur des plutarchischen Typus bestimmend ist, aber nicht recht in
den Zusammenhang pragmatischer, der Belehrung des Staatsmannes dienender
Historiographie zu passen scheint, hat seinen Grund wohl im Vorhandensein einer
damals schon festen Konvention der Geschichtsschreibung. Von Thukydides bis
Tacitus begegnet man der Gepflogenheit des Geschichtsschreibers, Nachrufe auf
geschichtlich bedeutsame Personen einzufügen, nachdem von ihrem Tod in der
vorangehenden Darstellung die Rede gewesen war. Das gilt etwa für den Perikles-
und den Antiphon-Nachruf (z. B. Thuc. 1,138 Themistokles; 2,65 Perikies; 8,68
Antiphon; Xenoph. anab. 2,6; Tac. ann. 2,88 Arminius). Wiewohl mit einer ab-
schließenden Würdigung dessen, was der Betreffende vollbracht und bewirkt hat,
durchaus eine Forderung apodeiktischer Geschichtsschreibung erfüllt wird, ver-
raten diese und vergleichbare Partien durchweg darüberhinaus das Interesse der
Autoren am Charakter, an der moralischen Physiognomie des Dargestellten. Das
literarische Porträt, das auf solche Weise entsteht, kann dann sehr wohl einer
έπανόρϋωσις des Lesers dienen.
Daß Polybios vom Unterschied zwischen Biographie und Enkomion überhaupt
nicht redet, liegt einfach daran, daß dieser für das ihn an dieser Stelle interessie-
rende Problem gänzlich unergiebig ist. So können wir nur darüber spekulieren, ob
seine Philopoimen-Monographie ein Enkomion nach der Art des xenophontischen
‘Agesilaos’ oder eine Biographie des plutarchischen Typus war. Eine moralische
Akzentsetzung besaß sie in jedem Fall, denn sie war „enkomiastisch“, und das Lob
einer literarisch dargestellten Person soll stets vor allem ihren sittlichen Eigenschaf-
ten gelten (s. o. S. 13). So ist es wohl auch für uns von untergeordneter Bedeutung, ob
in jener Schrift Philopoimens Tugendkatalog an einzelnen Begebenheiten aus
seinem Leben erläutert (vgl. Menand. de gen. dem. p. 372,14ff. Sp. mit dem Kom-
mentar von Russell/Wilson z. St.) oder sein als Einheit erfaßter Lebenslauf wie bei
Plutarch als Verwirklichung eines Komplexes sittlicher Verhaltensweisen gedeutet
wurde. Die vollständige Nacherzählung aller Lebensereignisse erübrigte sich in
beiden Fällen, und eben dieser Umstand gehört zu dem Wenigen, was man über die
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dungszusammenhang der auf Vollständigkeit angelegten Darstellung der Ereig-
nisse und soll sich deshalb vom Enkomion mit seiner αυξησις unterscheiden (Pol.
10, 21,8; cf. Cic. de or. 2,63), er dient zum anderen der moralischen Belehrung
(έπανόρϋωσις) des Lesers (Pol. 10, 21,3) und kann sich insofern dem Enkomion
nähern. Gerade die Funktionsbeschreibung, die Polybios für die in der Geschichts-
schreibung verwendeten biographischen Elemente gibt, beleuchtet also den für ihn
bestehenden Unterschied zwischen biographisch-enkomiastischem und histori-
schem Bericht. Ihm liegt es fern, mit dem Verfasser der pseudodionysischen
Rhetorik (11,2 p. 376 Usener-Radermacher) die ganze Geschichtsschreibung als
„(Moral)philosophie mit Hilfe von Beispielen“ zu definieren.
Daß Polybios mit dem Verweis auf die έπανόρϋωσις des Lesers dem biographi-
schen Exkurs im Geschichtswerk die gleiche Funktion zuweist, die für die bio-
graphische Literatur des plutarchischen Typus bestimmend ist, aber nicht recht in
den Zusammenhang pragmatischer, der Belehrung des Staatsmannes dienender
Historiographie zu passen scheint, hat seinen Grund wohl im Vorhandensein einer
damals schon festen Konvention der Geschichtsschreibung. Von Thukydides bis
Tacitus begegnet man der Gepflogenheit des Geschichtsschreibers, Nachrufe auf
geschichtlich bedeutsame Personen einzufügen, nachdem von ihrem Tod in der
vorangehenden Darstellung die Rede gewesen war. Das gilt etwa für den Perikles-
und den Antiphon-Nachruf (z. B. Thuc. 1,138 Themistokles; 2,65 Perikies; 8,68
Antiphon; Xenoph. anab. 2,6; Tac. ann. 2,88 Arminius). Wiewohl mit einer ab-
schließenden Würdigung dessen, was der Betreffende vollbracht und bewirkt hat,
durchaus eine Forderung apodeiktischer Geschichtsschreibung erfüllt wird, ver-
raten diese und vergleichbare Partien durchweg darüberhinaus das Interesse der
Autoren am Charakter, an der moralischen Physiognomie des Dargestellten. Das
literarische Porträt, das auf solche Weise entsteht, kann dann sehr wohl einer
έπανόρϋωσις des Lesers dienen.
Daß Polybios vom Unterschied zwischen Biographie und Enkomion überhaupt
nicht redet, liegt einfach daran, daß dieser für das ihn an dieser Stelle interessie-
rende Problem gänzlich unergiebig ist. So können wir nur darüber spekulieren, ob
seine Philopoimen-Monographie ein Enkomion nach der Art des xenophontischen
‘Agesilaos’ oder eine Biographie des plutarchischen Typus war. Eine moralische
Akzentsetzung besaß sie in jedem Fall, denn sie war „enkomiastisch“, und das Lob
einer literarisch dargestellten Person soll stets vor allem ihren sittlichen Eigenschaf-
ten gelten (s. o. S. 13). So ist es wohl auch für uns von untergeordneter Bedeutung, ob
in jener Schrift Philopoimens Tugendkatalog an einzelnen Begebenheiten aus
seinem Leben erläutert (vgl. Menand. de gen. dem. p. 372,14ff. Sp. mit dem Kom-
mentar von Russell/Wilson z. St.) oder sein als Einheit erfaßter Lebenslauf wie bei
Plutarch als Verwirklichung eines Komplexes sittlicher Verhaltensweisen gedeutet
wurde. Die vollständige Nacherzählung aller Lebensereignisse erübrigte sich in
beiden Fällen, und eben dieser Umstand gehört zu dem Wenigen, was man über die