Metadaten

Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 3. Abhandlung): Die Entstehung der historischen Biographie: vorgetragen am 26. Apr. 1986 — Heidelberg: Winter, 1987

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48146#0048
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
46

Albrecht Dihle

S. 39) in zweifacher Hinsicht - unter dem Aspekt der verfassungsgeschichtlichen
Voraussetzungen und unter dem der Wirkung auf den Leser - in einen größeren
Zusammenhang rückt. Tacitus hält an der thukydideischen Forderung fest,
Geschichtsschreibung müsse nützen und belehren. Dieser Zweck verband sich, so
Tacitus, in der alten Geschichtsschreibung, die über situs gentium, varietates proe-
liorum, clari ducum exitus berichtete, von selbst mit einer oblectatio der Leser, ja
mit ihrer Erbauung (retinere ac redintegrare legentium animum), ganz wie es schon
bei Livius zu lesen steht (1 praef. 5). Dabei spielte es keine Rolle, für welche Seite
der Historiker Partei nahm. Tacitus kann nur saeva iussa, continuas accusationes,
fallaces amicitias, perniciem innocentium berichten. Was noch schlimmer ist: Für
all dies Unheil gibt es immer wieder nur dieselben Gründe - obvia rerum similitu-
dine et satietate. Die Leser der Berichte vom Schicksal der Opfer des Tiberius
werden, drei Generationen später, die Zustände der eigenen Zeit wiederfinden:
Reperies qui ob similitudinem morum aliena malefacta sibi obiectari putent. “The
scope of history was narrowing: on the one hand local and municipal affairs, on the
other the personality and acts of the ruler” (Syme I 227). Das eine war zuvor Auf-
gabe des antiquarisch geschulten Lokalschriftstellers, das andere die des Bio-
graphen. Der Weg zu einer Geschichtsschreibung war vorgezeichnet, in der jeder
Abschnitt sinnvoll nur noch nach der Regierungszeit des jeweiligen Entscheidungs-
trägers, des Kaisers, abgegrenzt werden konnte. Sein Lebensbild erklärte hinläng-
lich die Abfolge der Ereignisse in dem betreffenden Zeitabschnitt.

V
Daß man die erste Hexade der Annalen des Tacitus trotz aller vom Autor ein-
gehaltenen Konventionen zeitgeschichtlicher Darstellung wie eine Biographie des
Tiberius lesen könne, ist eine schon oft getroffene Feststellung. Eigentlich alles, was
die Lektüre dieser Bücher interessant und bewegend macht, bezieht sich direkt
oder indirekt auf die Person des Kaisers, denn die Ereignisse und Zustände, von
denen Tacitus berichtet, haben nach seiner Darstellung ihre eigentliche Ursache
stets beim Kaiser, bei seinem Handeln oder Unterlassen. Darum ist es nur folge-
richtig, daß der Aufbau der ganzen Partie durch die Etappen strukturiert wird, in
welche die innere Entwicklung des Kaisers oder, anders ausgedrückt, das Offenbar-
werden seines Charakters im Verlauf der Regierungsjahre eingeteilt werden kann
und die eben durch entsprechende Handlungen und Verhaltensweisen markiert
sind.
Das von Tacitus entworfene Bild von der „Entwicklung“ des Kaisers ist bekannt:
Sein von Anfang an mit vielen negativen Zügen ausgestattetes Wesen (1,4,3) wirkt
sich in seinen Handlungen solange nicht aus, als er auf Menschen oder Gegeben-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften