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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 3. Abhandlung): Die Entstehung der historischen Biographie: vorgetragen am 26. Apr. 1986 — Heidelberg: Winter, 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.48146#0047
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Die Entstehung der historischen Biographie

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Zur historischen Biographie fuhrt von dieser, als „Philosophie mit Hilfe von Bei-
spielen“ (Ps. Dion. Hal. ars rhet. 11,2 p. 376 Us. R.) konzipierter Geschichtsschrei-
bung kein direkter Weg, denn die Biographie setzt das Interesse an einem unver-
wechselbaren Lebensweg voraus. Das gilt unbeschadet der Tatsache, daß das
Geschichtswerk des Poseidonios wie kein anderes dem Biographen eine Fülle von
Details zur intimen Charakterisierung seiner Helden liefern konnte, wenn er sie aus
diesem Zeitabschnitt auswählte. Plutarchs Viten des Marius, Sulla, Lucullus oder
Sertorius können es zeigen.
Die von Tacitus erkannten und beschriebenen Bedingungen einer Geschichts-
schreibung unter dem Prinzipat lenkten die Aufmerksamkeit des Historikers
einmal auf die Zustände in Staat und Gesellschaft, also auf das traditionelle Thema
gelehrter, literarisch zumeist ungeformter Schriftstellerei, sowie auf das Verhalten
des Einen, von dem die Ereignisse ihren Gang und die Zustände ihre Gestalt erhiel-
ten. Die Gegenstände von Biographie und gelehrter Literatur gewannen also domi-
nierendes Interesse in einer literarischen Gattung, in der es bis dahin um res gestae
gegangen war. Wo die Ereignisse der großen Politik dem Einfluß, dem Verständnis
und nur zu oft den Augen des Geschichtsschreibers entzogen waren, suchte er, der
den geschichtlichen Wandel begreifen wollte, seinen Gegenstand auf den Feldern,
die ihm offenstanden. So erklärt sich, daß Tacitus und Sueton so oft dieselben The-
men behandeln.
Beide, Tacitus und Sueton, blieben freilich der ihnen jeweils vorgegebenen
Tradition nicht nur in der Wahl ihres Sprachstiles treu, sondern auch darin, daß der
eine die beschriebenen Zustände vornehmlich psychologisch, also als Zustände
von Menschen und Menschengruppen erfaßte, während der andere die Sitten,
Gebräuche und Institutionen als solche im Auge hatte. Diesem Unterschied aber
steht eine Gemeinsamkeit gegenüber, die im Hinblick auf das Bild Bedeutung
besitzt, das beide Autoren von ihrer Epoche hatten: Individuen oder Gruppen von
Individuen sind nicht mehr Subjekte der Geschichte. In schneidenden Worten
beschreibt Tacitus schon am Schluß des ‘Agricola’ die am eigenen Leibe erfahrene
Machtlosigkeit auch des ersten Standes im Reich (45,1-2). Die Menschen sind
unter den Bedingungen des Prinzipates zu Objekten der Geschichte geworden, ihr
einziges Subjekt ist der Kaiser, mag er seine Macht auch gelegentlich delegieren,
wie es Tiberius im Fall des Seian tat. Dieselbe Überzeugung leitet auch Sueton,
wenn er die Zustände in Staat und Gesellschaft und seine Veränderungen als inte-
grierende Abschnitte seiner Kaiserbiographien behandelt.
Beide, Geschichtsschreibung wie antiquarisch-gelehrte Schriftstellerei, können
unter diesen Voraussetzungen nicht mehr ohne ein dominierendes biographisches
Element auskommen. Das gilt entsprechend der von Tacitus ausgesprochenen Ein-
sicht jenseits aller möglichen Enkomiastik, wie sie für Velleius bestimmend war.
Was der Geschichtsschreibung dadurch verlorenging, erörtert Tacitus im
Annalenkapitel 4,33, das die Ausführungen des vorangegangenen Abschnittes (s. o.
 
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