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Albrecht Dihle
eine Studie gewidmet und darauf hingewiesen, wie hier durch verschwommene
Chronologie, unverifizierbare Kolportage und insinuierte Ausdeutung zumeist
harmloser Fakten dem Leser ein tiefer Abscheu gegen alles und jedes, was mit
Domitian zusammenhängt, suggeriert werden soll. Die Kapitel berichten über
Agricolas letzten, tatsächlich - was kein unbefangener Leser der taciteischen Dar-
stellung vermuten würde - 9 Jahre währenden Aufenthalt in Rom nach seiner
Abberufung aus Britannien. Liest man sie als Teil einer Biographie, geben sie reich-
lichen Aufschluß über das Wesen des Titelhelden, über seine Erfahrungen und
Zurücksetzungen, seine Zurückhaltung und Bescheidenheit, seine kluge Einschät-
zung der eigenen gefährdeten Lage. Man kann sie aber auch als historischen Bericht
lesen, in dem vom Wesen und Tun des Kaisers, von den Lebensbedingungen in der
Hauptstadt und von mancherlei Regierungsmaßnahmen und politischen Ereignis-
sen die Rede ist. Insgesamt aber ergibt sich gerade aus der Verbindung dieser Ele-
mente eine meisterhafte Schilderung der beklemmenden Atmosphäre Roms in den
letzten Jahren Domitians. Die damit hervorgerufene Spannung löst sich nicht im
Bericht über Agricolas Tod, der auch das Gerücht erwähnt, er sei auf Domitians
Veranlassung vergiftet worden. Zielpunkt der hier angesammelten Spannung ist
vielmehr der leidenschaftliche Ausbruch des Tacitus im 45. Kapitel, das die Mit-
schuld der schweigenden Senatsmehrheit am Tod der Opfer der Tyrannei beklagt
und zur paränetisch-konsolatorischen Schlußpartie des Werkes überleitet. Die
Dichte atmosphärischer Beschreibungen, die Tacitus in den historischen Werken
immer wieder dadurch erzielt, daß er in die Darstellung politischer oder militäri-
scher Ereignisse Details aus ganz persönlichen Schicksalen und Erlebnissen inte-
griert, ergibt sich hier zum ersten Mal im Zusammenhang einer biographischen
Schrift, aber eben einer „historischen“ Biographie.
Die biographische Tradition Roms scheint, wie oben gezeigt wurde, vom Inter-
esse an der Politik in stärkerem Maße geprägt gewesen zu sein, als das für die grie-
chische Seite zutrifft. Indessen gibt es keinen Grund anzunehmen, daß dort bereits
mit dem Verweis auf die geschichtliche Situation des Dargestellten allgemein aner-
kannte und für unveränderlich gehaltene Kategorien des moralischen Urteils modi-
fiziert werden. Hierin erweist sich Tacitus als ein Neuerer. Zwar setzt er den alt-
römischen Tugendkanon nicht außer Kurs, sondern schreibt seinem Helden gerade
industria und vigor zu. Aber im apologetischen Bestreben, seinen Schwiegervater
als Mann zu erweisen, der die Tyrannis überlebte und doch ein echter Römer war,
sucht er zu zeigen, daß die Praktizierung dieser Tugenden unter den besonderen
Bedingungen jener Periode anders aussehen mußte als in anderen Zeiten, daß es
also mit der Befolgung ein für alle Mal gültiger Exempla nicht sein Bewenden
haben konnte.
Albrecht Dihle
eine Studie gewidmet und darauf hingewiesen, wie hier durch verschwommene
Chronologie, unverifizierbare Kolportage und insinuierte Ausdeutung zumeist
harmloser Fakten dem Leser ein tiefer Abscheu gegen alles und jedes, was mit
Domitian zusammenhängt, suggeriert werden soll. Die Kapitel berichten über
Agricolas letzten, tatsächlich - was kein unbefangener Leser der taciteischen Dar-
stellung vermuten würde - 9 Jahre währenden Aufenthalt in Rom nach seiner
Abberufung aus Britannien. Liest man sie als Teil einer Biographie, geben sie reich-
lichen Aufschluß über das Wesen des Titelhelden, über seine Erfahrungen und
Zurücksetzungen, seine Zurückhaltung und Bescheidenheit, seine kluge Einschät-
zung der eigenen gefährdeten Lage. Man kann sie aber auch als historischen Bericht
lesen, in dem vom Wesen und Tun des Kaisers, von den Lebensbedingungen in der
Hauptstadt und von mancherlei Regierungsmaßnahmen und politischen Ereignis-
sen die Rede ist. Insgesamt aber ergibt sich gerade aus der Verbindung dieser Ele-
mente eine meisterhafte Schilderung der beklemmenden Atmosphäre Roms in den
letzten Jahren Domitians. Die damit hervorgerufene Spannung löst sich nicht im
Bericht über Agricolas Tod, der auch das Gerücht erwähnt, er sei auf Domitians
Veranlassung vergiftet worden. Zielpunkt der hier angesammelten Spannung ist
vielmehr der leidenschaftliche Ausbruch des Tacitus im 45. Kapitel, das die Mit-
schuld der schweigenden Senatsmehrheit am Tod der Opfer der Tyrannei beklagt
und zur paränetisch-konsolatorischen Schlußpartie des Werkes überleitet. Die
Dichte atmosphärischer Beschreibungen, die Tacitus in den historischen Werken
immer wieder dadurch erzielt, daß er in die Darstellung politischer oder militäri-
scher Ereignisse Details aus ganz persönlichen Schicksalen und Erlebnissen inte-
griert, ergibt sich hier zum ersten Mal im Zusammenhang einer biographischen
Schrift, aber eben einer „historischen“ Biographie.
Die biographische Tradition Roms scheint, wie oben gezeigt wurde, vom Inter-
esse an der Politik in stärkerem Maße geprägt gewesen zu sein, als das für die grie-
chische Seite zutrifft. Indessen gibt es keinen Grund anzunehmen, daß dort bereits
mit dem Verweis auf die geschichtliche Situation des Dargestellten allgemein aner-
kannte und für unveränderlich gehaltene Kategorien des moralischen Urteils modi-
fiziert werden. Hierin erweist sich Tacitus als ein Neuerer. Zwar setzt er den alt-
römischen Tugendkanon nicht außer Kurs, sondern schreibt seinem Helden gerade
industria und vigor zu. Aber im apologetischen Bestreben, seinen Schwiegervater
als Mann zu erweisen, der die Tyrannis überlebte und doch ein echter Römer war,
sucht er zu zeigen, daß die Praktizierung dieser Tugenden unter den besonderen
Bedingungen jener Periode anders aussehen mußte als in anderen Zeiten, daß es
also mit der Befolgung ein für alle Mal gültiger Exempla nicht sein Bewenden
haben konnte.