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Albrecht Dihle
individuellen Lebensganges, und zwar gerade in der Historiographie. So erzählt
z. B. Polybios in mehreren Fällen von äußeren Bedingungen, die einen Staatsmann
oder Feldherrn daran hindern, die Impulse seiner schlechten Natur in vorsätzlich
schlechte Handlungen umzusetzen. Die moralisch bewertete Intention als solche
wird ganz und gar auf die natürliche Veranlagung zurückgeführt. Wo Handlungen
dieser Veranlagung widersprechen, erklärt sie sich aus äußeren Faktoren, die zur
Furcht nötigen. Unbeschränkte Möglichkeit, die Macht auszuüben, muß also in
seinen Handlungen die wahre Natur des betreffenden Menschen offenbar werden
lassen. Es liegt hier genau das Schema vor, nach dem auch Tacitus die Geschichte
des Tiberius erzählt. Vergleichbares findet sich in einer Plutarch-Vita, die Kurt von
Fritz (Historiographia Antiqua. Commentationes in honorem W. Peremans,
Löwen 1977, 183 ff.) im Hinblick auf den dort geschilderten Verhaltenswandel mit
gutem Grund auf Poseidonios zurückgeführt hat. Seiner Natur zufolge eignete sich
Marius nur für das Soldatenleben und war unfähig zum maßvollen Gebrauch ver-
fügbarer Macht (άκρατον έν ταϊς έξουσίαις τον θυμόν έσχε), zumal er keine humani-
sierende Erziehung genossen hatte (Mar. 2,1 f). Wenn sein Verhalten anfänglich
trotz gelegentlicher Entgleisungen (9,1) wenig Anlaß zum Tadel bot (6,1; 24,1;
27,10), so deshalb, weil ihn seine Abhängigkeit von einer gewissen Popularität noch
lange zum maßvollen Verhalten gegen seine Natur zwang (παρά την φυσιν ύγρός τις
είναι βουλόμενος και δημοτικός, ήκιστα τοιοΰτος πεφυκώς 28,1). Am Ende seiner
Laufbahn aber verführte ihn der Erfolg, der ihn von kleinsten Anfängen auf den
Gipfel der Macht geführt hatte, zu besonders abstoßendem Verhalten (όρον ούκ
οίδεν τής εύτυχίας 34,6).
In der ausführlichen Würdigung der Person Hannibals (9, 22,7-26,11) erörtert
Polybios das Problem widersprüchlicher Handlungen, die von Männern aus der
Geschichte (δυνάσται, άνδρες πραγματικοί 9, 23,4; 7,11,1) immer wieder berichtet
werden. Dem Historiker geht es um die Physis Hannibals (9,22,7; 22,9; 23,4; 24,2),
die man wegen der Gegensätzlichkeit seiner Handlungsweisen nicht klar durch-
schauen kann. Das Phänomen, das den Ausgangspunkt der Betrachtung abgibt, ist
also weniger ein einmaliger Umschwung im Verhalten der Person, sondern gegen-
sätzliche Verhaltensweisen, die über einen längeren Zeitraum hin zu beobachten
sind. Polybios hielt es für unwahrscheinlich, daß dieselbe Physis entgegengesetzte
Handlungsweisen bedingt (περί τάς αύτάς φύσεις τάς έναντιωτάτας διαθέσεις
ύπάρχειν 9,23,4). Der Grund für die Divergenzen im Handeln muß also außerhalb
der Physis liegen. Indessen bestreitet Polybios auch die Meinung, daß uneinge-
schränkte Macht (έξουσίαι) oder Unglück (άτυχίαι) die Physis eines Menschen ans
Tageslicht bringe, wie es offenbar gelehrt wird - Polybios spricht von ένιοι (9,22,9)
- und wie man es bei Tacitus liest. Vielmehr werden die Menschen im politischen
Leben erstens durch die Buntheit der Geschehnisse (ποικιλία των πραγμάτων) und
zweitens durch das Miteinander mit Freunden (παραθέσεις των φίλων) gezwungen,
immer wieder gegen ihre eigenen Intentionen (προαιρέσεις) - die, so können wir
Albrecht Dihle
individuellen Lebensganges, und zwar gerade in der Historiographie. So erzählt
z. B. Polybios in mehreren Fällen von äußeren Bedingungen, die einen Staatsmann
oder Feldherrn daran hindern, die Impulse seiner schlechten Natur in vorsätzlich
schlechte Handlungen umzusetzen. Die moralisch bewertete Intention als solche
wird ganz und gar auf die natürliche Veranlagung zurückgeführt. Wo Handlungen
dieser Veranlagung widersprechen, erklärt sie sich aus äußeren Faktoren, die zur
Furcht nötigen. Unbeschränkte Möglichkeit, die Macht auszuüben, muß also in
seinen Handlungen die wahre Natur des betreffenden Menschen offenbar werden
lassen. Es liegt hier genau das Schema vor, nach dem auch Tacitus die Geschichte
des Tiberius erzählt. Vergleichbares findet sich in einer Plutarch-Vita, die Kurt von
Fritz (Historiographia Antiqua. Commentationes in honorem W. Peremans,
Löwen 1977, 183 ff.) im Hinblick auf den dort geschilderten Verhaltenswandel mit
gutem Grund auf Poseidonios zurückgeführt hat. Seiner Natur zufolge eignete sich
Marius nur für das Soldatenleben und war unfähig zum maßvollen Gebrauch ver-
fügbarer Macht (άκρατον έν ταϊς έξουσίαις τον θυμόν έσχε), zumal er keine humani-
sierende Erziehung genossen hatte (Mar. 2,1 f). Wenn sein Verhalten anfänglich
trotz gelegentlicher Entgleisungen (9,1) wenig Anlaß zum Tadel bot (6,1; 24,1;
27,10), so deshalb, weil ihn seine Abhängigkeit von einer gewissen Popularität noch
lange zum maßvollen Verhalten gegen seine Natur zwang (παρά την φυσιν ύγρός τις
είναι βουλόμενος και δημοτικός, ήκιστα τοιοΰτος πεφυκώς 28,1). Am Ende seiner
Laufbahn aber verführte ihn der Erfolg, der ihn von kleinsten Anfängen auf den
Gipfel der Macht geführt hatte, zu besonders abstoßendem Verhalten (όρον ούκ
οίδεν τής εύτυχίας 34,6).
In der ausführlichen Würdigung der Person Hannibals (9, 22,7-26,11) erörtert
Polybios das Problem widersprüchlicher Handlungen, die von Männern aus der
Geschichte (δυνάσται, άνδρες πραγματικοί 9, 23,4; 7,11,1) immer wieder berichtet
werden. Dem Historiker geht es um die Physis Hannibals (9,22,7; 22,9; 23,4; 24,2),
die man wegen der Gegensätzlichkeit seiner Handlungsweisen nicht klar durch-
schauen kann. Das Phänomen, das den Ausgangspunkt der Betrachtung abgibt, ist
also weniger ein einmaliger Umschwung im Verhalten der Person, sondern gegen-
sätzliche Verhaltensweisen, die über einen längeren Zeitraum hin zu beobachten
sind. Polybios hielt es für unwahrscheinlich, daß dieselbe Physis entgegengesetzte
Handlungsweisen bedingt (περί τάς αύτάς φύσεις τάς έναντιωτάτας διαθέσεις
ύπάρχειν 9,23,4). Der Grund für die Divergenzen im Handeln muß also außerhalb
der Physis liegen. Indessen bestreitet Polybios auch die Meinung, daß uneinge-
schränkte Macht (έξουσίαι) oder Unglück (άτυχίαι) die Physis eines Menschen ans
Tageslicht bringe, wie es offenbar gelehrt wird - Polybios spricht von ένιοι (9,22,9)
- und wie man es bei Tacitus liest. Vielmehr werden die Menschen im politischen
Leben erstens durch die Buntheit der Geschehnisse (ποικιλία των πραγμάτων) und
zweitens durch das Miteinander mit Freunden (παραθέσεις των φίλων) gezwungen,
immer wieder gegen ihre eigenen Intentionen (προαιρέσεις) - die, so können wir