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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 3. Abhandlung): Die Entstehung der historischen Biographie: vorgetragen am 26. Apr. 1986 — Heidelberg: Winter, 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.48146#0053
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Die Entstehung der historischen Biographie

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Verhaltensweisen, sondern auch die auf bewußter Entscheidung beruhenden
(προαιρέσεις) oder zur Gewohnheit gewordenen (διαθέσεις). Also nicht bewußt
praktizierte und erworbene Verhaltensweisen stehen der Physis gegenüber, son-
dern nur das, was die Tyche bringt, nämlich eingeschränkte oder uneingeschränkte
Möglichkeit, Macht auszuüben, gute oder schlechte Freunde, auf die man ange-
wiesen ist, günstige oder ungünstige Konstellationen im Verlauf der Geschehnisse,
Glück oder Unglück. Veränderungen in allen diesen Faktoren bewirken notwen-
digerweise auch Veränderungen im Verhalten des Staatsmannes oder Feldherrn,
bisweilen eben auch in der Weise, daß er gegen die seiner Physis entsprechenden,
bewußten Intentionen handelt.
Dieses Bild widerspricht durchaus der Erklärung menschlichen Handelns, die
nach dem Zeugnis Plutarchs für die literarisch geformte Biographie bestimmend
war und aus der philosophischen Ethik und Anthropologie stammt. In der Schrift
von der ήϋική αρετή, die eine aus peripatetischen, mittelstoischen und akademi-
schen Elementen zusammengesetzte Lehre ausbreitet, hat Plutarch die Grund-
lagen der in seinen Biographien befolgten Methode psychologischer Deutung selbst
bezeichnet (z. B. 4/5 — 443 Cff.).
Wie schon wiederholt dargelegt (vgl. A. Dihle, Studien zur griechischen Bio-
graphie, Göttingen21970, 60 ff.) interessieren Plutarch die ήϋη seiner Helden mehr
als ihre φύσις. Zwischen beiden unterscheidet er sorgfältig. Auf die Physis gestatten
vor allem Begebenheiten aus der Jugend des Dargestellten Rückschlüsse. Die
Handlungen des reifen Mannes hingegen bezeugen seine ήϋη oder mores, die Ver-
haltensweisen nämlich, die er auf der Grundlage der unveränderlichen Anlagen
seiner Natur, im Vollzug ständigen, aus freier, verstandesgelenkter Entscheidung
kommenden Handelns und in der Auseinandersetzung mit den Einwirkungen der
Außenwelt (πάϋη) erworben hat. Diese ήϋη, ob Tugenden oder Laster, sind zwar
nicht unveränderlich wie die Veranlagungen der Natur, gewinnen aber im Laufe des
Lebens in dem Maße an Festigkeit, als in ihrem Sinn gehandelt wird. In der Regel
sind es bei Plutarch die ήϋη oder διαϋέσεις seiner Helden, die sich durch die Einwir-
kung der τύχη oder durch große πάϋη ändern, aber nicht ihre φύσις (z. B. Nie. 1; Per.
38; Rom. 31; Cleom. 1). Während Polybios meint, ein- und dieselbe Physis könne
nicht entgegengesetzte Verhaltensweisen hervorbringen (s. o. S. 48), vergleicht sie
Plutarch mit einem guten Acker, auf dem ohne Pflege mit dem Getreide auch
Unkraut wächst (Cor. 1).
Auch Plutarch rechnet mit der Möglichkeit der vorherrschenden Bestimmung
eines Menschen und seines Verhaltens durch seine Naturanlagen. So sagt er von
Sertorius anläßlich eines Vorfalls in dessen späterem Leben, es habe sich hier
gezeigt, daß er von Natur aus nicht human gewesen sei, vielmehr seine Anlage vor-
her unter dem Zwang der Verhältnisse unter Kontrolle gehalten habe (τήν φύσιν
έπαμπεχομένην λογισμω διά τήν άνάγκην Sert. 10). Plutarch knüpft daran
die Betrachtung, daß eine vollkommene moralische Lebenshaltung (αρετή είλικρι-
 
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