Symmetrie im Spiegel der Antike
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es uns wenigstens im Walten einer gerechten Justitia erhalten bleibt,
deren Symbol seit alters die Waage ist24.
Eine Störung des Körpergleichgewichts kann durch komplizierte
Mechanismen zur Not wiederhergestellt werden, wenn man etwa ein
Bein verloren hat. Abgesehen vom Leid der Betroffenen, stört nichts
unser Symmetriegefühl so sehr wie der Anblick eines hinkenden Lebe-
wesens.
Daß auch durch reine Zufälligkeit Symmetrien entstehen können,
beweist die Tatsache, daß bei uns zwei zeitlich unmittelbar nachein-
ander amtierende Bundeskanzler nicht nur beide Helmut heißen, son-
dern auch ihre Frauen den gleichen Namen Hannelore tragen, wobei
näheres Zusehen wiederum erhebliche Abweichungen von der Sym-
metrie der Erscheinungen erkennen läßt. Dergleichen Zufallssymme-
trie führt also in die Irre, sobald man sie überstrapaziert.
Um aber diese ausufemden Beobachtungen mit mehr Ernst zu be-
schließen, so findet auch auf ethisch-religiösem Gebiet die Symmetrie
ihren Platz, indem uns die 5. Bitte des Vaterunsers mahnt, unseren
Schuldigem ebenso zu vergeben, wie wir uns die Vergebung unserer
Schuld erhoffen. Doch sei es damit genug der Spekulation. Begeben
wir uns mit der Betrachtung der Symmetrie in der Antike endlich wie-
der auf festeren Boden.
Der erste Blick auf den antiken Befund zeigt uns, was uns vielleicht
erstaunen mag, daß im Griechischen, woher wir das Wort bezogen
haben, die symmetria keineswegs unserer ‘Symmetrie’ entspricht, son-
dern in viel weiterem Sinn die Ausgewogenheit der Proportionen
bezeichnet25. Gewiß mag da und dort in der Spezialliteratur das Wort
auch einmal der ihm von uns untergelegten Bedeutung näherkommen
oder gar entsprechen (an deren vorhin gegebene Definition wir uns
erinnern). Ich habe dafür aber bisher kein Beispiel finden können. Die
Fachgelehrten der Medizin- und der Mathematik-Historie könnten
uns dafür wohl noch am ehesten Belege liefern26.
24 Auf den Extremfall der Gleichgewichtigkeit in der Justiz älterer Rechtssysteme,
das Ins talionis (‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’) weist ein Diskussionsbeitrag von
Antonie Wlosok hin.
25 Erkannt hat dies neuerdings auch H. Götze aO. (Anm. 9) a) 14 = b) 72 mit der
Tendenz, unseren Begriff der Symmetrie wieder dem antiken Verständnis vom
symmetria anzunähern.
26 Im Bereich der griechischen Geometrie wird man freilich vergeblich suchen, wie
sich aus dem Spezialwörterbuch von Charles Mugler ergibt, das mir Konr. Gaiser
freundlich nachgewiesen hat: Dictionnaire historique de la terminologie geome-
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es uns wenigstens im Walten einer gerechten Justitia erhalten bleibt,
deren Symbol seit alters die Waage ist24.
Eine Störung des Körpergleichgewichts kann durch komplizierte
Mechanismen zur Not wiederhergestellt werden, wenn man etwa ein
Bein verloren hat. Abgesehen vom Leid der Betroffenen, stört nichts
unser Symmetriegefühl so sehr wie der Anblick eines hinkenden Lebe-
wesens.
Daß auch durch reine Zufälligkeit Symmetrien entstehen können,
beweist die Tatsache, daß bei uns zwei zeitlich unmittelbar nachein-
ander amtierende Bundeskanzler nicht nur beide Helmut heißen, son-
dern auch ihre Frauen den gleichen Namen Hannelore tragen, wobei
näheres Zusehen wiederum erhebliche Abweichungen von der Sym-
metrie der Erscheinungen erkennen läßt. Dergleichen Zufallssymme-
trie führt also in die Irre, sobald man sie überstrapaziert.
Um aber diese ausufemden Beobachtungen mit mehr Ernst zu be-
schließen, so findet auch auf ethisch-religiösem Gebiet die Symmetrie
ihren Platz, indem uns die 5. Bitte des Vaterunsers mahnt, unseren
Schuldigem ebenso zu vergeben, wie wir uns die Vergebung unserer
Schuld erhoffen. Doch sei es damit genug der Spekulation. Begeben
wir uns mit der Betrachtung der Symmetrie in der Antike endlich wie-
der auf festeren Boden.
Der erste Blick auf den antiken Befund zeigt uns, was uns vielleicht
erstaunen mag, daß im Griechischen, woher wir das Wort bezogen
haben, die symmetria keineswegs unserer ‘Symmetrie’ entspricht, son-
dern in viel weiterem Sinn die Ausgewogenheit der Proportionen
bezeichnet25. Gewiß mag da und dort in der Spezialliteratur das Wort
auch einmal der ihm von uns untergelegten Bedeutung näherkommen
oder gar entsprechen (an deren vorhin gegebene Definition wir uns
erinnern). Ich habe dafür aber bisher kein Beispiel finden können. Die
Fachgelehrten der Medizin- und der Mathematik-Historie könnten
uns dafür wohl noch am ehesten Belege liefern26.
24 Auf den Extremfall der Gleichgewichtigkeit in der Justiz älterer Rechtssysteme,
das Ins talionis (‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’) weist ein Diskussionsbeitrag von
Antonie Wlosok hin.
25 Erkannt hat dies neuerdings auch H. Götze aO. (Anm. 9) a) 14 = b) 72 mit der
Tendenz, unseren Begriff der Symmetrie wieder dem antiken Verständnis vom
symmetria anzunähern.
26 Im Bereich der griechischen Geometrie wird man freilich vergeblich suchen, wie
sich aus dem Spezialwörterbuch von Charles Mugler ergibt, das mir Konr. Gaiser
freundlich nachgewiesen hat: Dictionnaire historique de la terminologie geome-