Symmetrie im Spiegel der Antike
29
Eine strenge Symmetrie hat dann die klassische Kunst der Grie-
chen noch viel konsequenter und zweifellos nicht ohne Absicht gemie-
den, indem sie den menschlichen Körper von der Starre in die Bewe-
gung überfuhrt und mit ihrer „elastischen und flüssigen Entsprechung
der Elemente“ die ‘Symmetrie’ im antiken Sinn, d. h. die ausgewogene
Proportion zur vollen Geltung bringt51. Damit hat sich die griechische
Kunst von der durch orientalische Einflüsse bestimmten Neigung zu
strenger Symmetrie mit Entschiedenheit gelöst und sich der ihrem
aufs genaueste aneinanderfugten. Diodor spricht von einem symphonein der bei-
den mere pros cillela, womit wir einen weiteren Versuch der griechischen Sprache
vor Augen haben, die seitengleiche Symmetrie mit Worten zu umschreiben. Die
Vokabel symmetria dagegen gebraucht Diodor bezeichnenderweise hier zweimal
ganz in dem den Griechen geläufigen Sinn von ‘Proportionalität’ und sagt sehr
schön von seinen Landsleuten, „daß sie die Ausgewogenheit von Bildwerken nach
dem optischen Sinneseindruck beurteilten“ (αρό tes katä ten höräsinphantasiäs ten
symmetriän tön agalmätön krinesthai) und eben nicht nach mathematischen Krite-
rien. Davaras in seiner abgewogenen Interpretation schreibt mit Recht dem
streng symmetrischen ‘saitischen Kanon’ der Ägypter einen maßgebenden Einfluß
auf die griechische Plastik von ihren Anfängen bis zur Vorherrschaft des polykle-
tischen Kanons zu.
48a Knapp und vortrefflich mit weiteren Beispielen für ‘symmetrisch’ gebaute grie-
chische Statuen H. Knell in: Symmetrie 1 1986, S. 162f. (m. Abb. 8 u. 9), wo auch
die von Diodor überlieferte Anekdote (unsere Anm. 48) erwähnt wird.
49 Eine ausgesprochen positive Würdigung dieser berühmten Grabstatue bietet B.
Schweitzer, Das Menschenbild der griechischen Plastik 1947, S. 19ffl, jetzt in sei-
nen Ausgewählten Schriften II 1963, S. 17 f. (mit Abb. aufTaf. 2,1 u. 2), wo von der
„adligen Leibeszucht dieses Körpers“ die Rede ist, der uns einen „allgemeinen
Begriff des Wüchsigen“ (griech. phye) vermittle (Hinweis von P. Hommel).
Ein weiteres gutes Beispiel - vermutlich noch älter als der Jüngling von Tenea,
etwa dem Anfang des 6. vorchristl. Jhs. entstammend - bietet die Rückansicht der
Berliner Stehenden Göttin aus Athen, deren symmetrischer Bau sich in dem sorg-
fältig geordneten Haar besonders deutlich zu erkennen gibt. Siehe dazu L. Beh-
ling aO. (ob. Anm. 19), S. 127 m. Abb. 3 auf S. 137.
50 Ich verwende hier Anregungen und z. TI. auch Formulierungen aus dem Buch von
Arnold v. Salis, Die Kunst der Griechen (1919) 41953, S. 186 u.ö., der in einem
glänzenden Kapitel über die ‘Harmonie in der klassischen Kunst’ S. 175-200 eine
seinerseits klassische Darstellung des Übergangs von der strengen Gebundenheit
der Archaik zur gelockerten Bewegung der Klassik gibt, Ausführungen, die jeder
Betrachtung über die ‘Symmetrie’ in der griechischen Kunst zum Ausgangspunkt
dienen können. Ergänzungen in mehrfacher Hinsicht bietet der Aufsatz des glei-
chen Verfassers ‘Klassische Komposition’ in: Concinnitas. Festschrift für Heinrich
Wölfflin 1944, 117-212, bes. 194ff. Dazu jetzt die wichtige Arbeit von Ilse Klee-
mann, Frühe Bewegung, Bd. 1 1984; vgl. a. H. Drerup, Marburger Winckelmanns-
programm 1980, S. 57ff (Hinweise von P. Hommel).
51 A. v. Salis, Kunst der Griechen 178f. (auch zum Folgenden).
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Eine strenge Symmetrie hat dann die klassische Kunst der Grie-
chen noch viel konsequenter und zweifellos nicht ohne Absicht gemie-
den, indem sie den menschlichen Körper von der Starre in die Bewe-
gung überfuhrt und mit ihrer „elastischen und flüssigen Entsprechung
der Elemente“ die ‘Symmetrie’ im antiken Sinn, d. h. die ausgewogene
Proportion zur vollen Geltung bringt51. Damit hat sich die griechische
Kunst von der durch orientalische Einflüsse bestimmten Neigung zu
strenger Symmetrie mit Entschiedenheit gelöst und sich der ihrem
aufs genaueste aneinanderfugten. Diodor spricht von einem symphonein der bei-
den mere pros cillela, womit wir einen weiteren Versuch der griechischen Sprache
vor Augen haben, die seitengleiche Symmetrie mit Worten zu umschreiben. Die
Vokabel symmetria dagegen gebraucht Diodor bezeichnenderweise hier zweimal
ganz in dem den Griechen geläufigen Sinn von ‘Proportionalität’ und sagt sehr
schön von seinen Landsleuten, „daß sie die Ausgewogenheit von Bildwerken nach
dem optischen Sinneseindruck beurteilten“ (αρό tes katä ten höräsinphantasiäs ten
symmetriän tön agalmätön krinesthai) und eben nicht nach mathematischen Krite-
rien. Davaras in seiner abgewogenen Interpretation schreibt mit Recht dem
streng symmetrischen ‘saitischen Kanon’ der Ägypter einen maßgebenden Einfluß
auf die griechische Plastik von ihren Anfängen bis zur Vorherrschaft des polykle-
tischen Kanons zu.
48a Knapp und vortrefflich mit weiteren Beispielen für ‘symmetrisch’ gebaute grie-
chische Statuen H. Knell in: Symmetrie 1 1986, S. 162f. (m. Abb. 8 u. 9), wo auch
die von Diodor überlieferte Anekdote (unsere Anm. 48) erwähnt wird.
49 Eine ausgesprochen positive Würdigung dieser berühmten Grabstatue bietet B.
Schweitzer, Das Menschenbild der griechischen Plastik 1947, S. 19ffl, jetzt in sei-
nen Ausgewählten Schriften II 1963, S. 17 f. (mit Abb. aufTaf. 2,1 u. 2), wo von der
„adligen Leibeszucht dieses Körpers“ die Rede ist, der uns einen „allgemeinen
Begriff des Wüchsigen“ (griech. phye) vermittle (Hinweis von P. Hommel).
Ein weiteres gutes Beispiel - vermutlich noch älter als der Jüngling von Tenea,
etwa dem Anfang des 6. vorchristl. Jhs. entstammend - bietet die Rückansicht der
Berliner Stehenden Göttin aus Athen, deren symmetrischer Bau sich in dem sorg-
fältig geordneten Haar besonders deutlich zu erkennen gibt. Siehe dazu L. Beh-
ling aO. (ob. Anm. 19), S. 127 m. Abb. 3 auf S. 137.
50 Ich verwende hier Anregungen und z. TI. auch Formulierungen aus dem Buch von
Arnold v. Salis, Die Kunst der Griechen (1919) 41953, S. 186 u.ö., der in einem
glänzenden Kapitel über die ‘Harmonie in der klassischen Kunst’ S. 175-200 eine
seinerseits klassische Darstellung des Übergangs von der strengen Gebundenheit
der Archaik zur gelockerten Bewegung der Klassik gibt, Ausführungen, die jeder
Betrachtung über die ‘Symmetrie’ in der griechischen Kunst zum Ausgangspunkt
dienen können. Ergänzungen in mehrfacher Hinsicht bietet der Aufsatz des glei-
chen Verfassers ‘Klassische Komposition’ in: Concinnitas. Festschrift für Heinrich
Wölfflin 1944, 117-212, bes. 194ff. Dazu jetzt die wichtige Arbeit von Ilse Klee-
mann, Frühe Bewegung, Bd. 1 1984; vgl. a. H. Drerup, Marburger Winckelmanns-
programm 1980, S. 57ff (Hinweise von P. Hommel).
51 A. v. Salis, Kunst der Griechen 178f. (auch zum Folgenden).