44
Hildebrecht Hommel
Gleichen den Einklang hervor, wie sie z. B. das männliche mit dem
weiblichen Geschlecht paarte und nicht etwa beide mit dem gleichen,
... Auch die Kunst bringt dies, offenbar durch Nachahmung der Natur,
zustande ... und stellt so eine einheitliche Harmonie dar ... Das
gleiche spricht sich auch in den Worten des dunklen Herakleitos aus:
Es fügt sich alles zusammen: Ganzes Nichtganzes, Einträchtiges Zwie-
trächtiges, Einklang Zwieklang, und aus allem eins und aus einem
alles’ (soweit Ps.-Aristoteles und sein Heraklit-Zitat).
Gewiß entspricht die damit angedeutete Harmonie des Weltganzen
mehr dem antiken Symmetriebegriff der Proportion als unserem ein-
geengten Symmetrieschema, wie wir es heute im Auge haben. Aber
daß diese in vielfachen Wendungen von Heraklit wiederholte Position
einen nachhaltigen Einfluß auch auf die abendländische Mystik und
Philosophie ausgeübt hat, daran kann kein Zweifel sein. Zunächst
noch einige der Formulierungen Heraklits: ‘Erst Krankheit macht die
Gesundheit angenehm und gut, Hunger die Sättigung, Mühsal die
Ruhe’ (fr. 111) oder ‘Das wider einander Strebende fugt sich zusam-
men, und aus dem Gegensätzlichen erst entsteht die schönste Harmo-
nie’ (fr. 8). Auch das so oft mißverstandene weil einseitig auf den Krieg
der Waffen bezogene Wort pölemos pater päntön ‘der Krieg ist der
Vater aller Dinge’ (fr. 53) darf nur im gleichen vertieften Sinn verstan-
den werden. Und schließlich ‘Das in sich Auseinanderdrängende
stimmt mit sich selber überein: eine gegenstrebige Harmonie wie
beim Bogen und bei der Leier’ (fr. 51), womit gesagt werden will, daß
beim Bogen erst durch die Spannung der Sehne die gesammelte Kraft-
auslösung erfolgt, wie bei der Leier erst durch die Spannung der Saiten
der volle Ton erklingt (vergessen wir nicht, daß unser Wort ‘Ton’ sich
letztlich aus dem griechischen tönos = ‘Spannung’ herleitet, und daß
der Gott Apollon ganz im Sinn des Heraklit Bogen und Leier als
Attribute trägt!). Friedrich Hölderlin war es, der in dem hen diapheron
heautöi des Heraklit, in der ‘Einheit, die sich mit sich selber entzweit’,
seinerseits das Wesen der Schönheit erblickt hat63 und dieser Erkennt-
63 Johs. Stroux, Harmonie als Wesenszug griechischen Denkens aO. (ob. Anm. 33)
S. 323 f. erinnert daran, ohne auf Heraklit einzugehen, daß überhaupt der Begriff
des Schönen, der nach Platon mit dem des Sittlichen eins ist, bei diesem wie bei
Aristoteles und der Stoa seine harmonische Natur in der richtigen Entsprechung
der Teile, der symmetria, zum Ausdruck bringt. Er weist dabei hin auf das stoische
kalön to teleiös symmetron (Chrysipp, Stoicorum Veterum Fragmenta III20,22); zu
deutsch ‘das Schöne ist vollendete Proportionalität’. Wichtiger noch ist in diesem
Zusammenhang die Quelle Platon, Philebos 64 E metriotes gar kai xymmetria
Hildebrecht Hommel
Gleichen den Einklang hervor, wie sie z. B. das männliche mit dem
weiblichen Geschlecht paarte und nicht etwa beide mit dem gleichen,
... Auch die Kunst bringt dies, offenbar durch Nachahmung der Natur,
zustande ... und stellt so eine einheitliche Harmonie dar ... Das
gleiche spricht sich auch in den Worten des dunklen Herakleitos aus:
Es fügt sich alles zusammen: Ganzes Nichtganzes, Einträchtiges Zwie-
trächtiges, Einklang Zwieklang, und aus allem eins und aus einem
alles’ (soweit Ps.-Aristoteles und sein Heraklit-Zitat).
Gewiß entspricht die damit angedeutete Harmonie des Weltganzen
mehr dem antiken Symmetriebegriff der Proportion als unserem ein-
geengten Symmetrieschema, wie wir es heute im Auge haben. Aber
daß diese in vielfachen Wendungen von Heraklit wiederholte Position
einen nachhaltigen Einfluß auch auf die abendländische Mystik und
Philosophie ausgeübt hat, daran kann kein Zweifel sein. Zunächst
noch einige der Formulierungen Heraklits: ‘Erst Krankheit macht die
Gesundheit angenehm und gut, Hunger die Sättigung, Mühsal die
Ruhe’ (fr. 111) oder ‘Das wider einander Strebende fugt sich zusam-
men, und aus dem Gegensätzlichen erst entsteht die schönste Harmo-
nie’ (fr. 8). Auch das so oft mißverstandene weil einseitig auf den Krieg
der Waffen bezogene Wort pölemos pater päntön ‘der Krieg ist der
Vater aller Dinge’ (fr. 53) darf nur im gleichen vertieften Sinn verstan-
den werden. Und schließlich ‘Das in sich Auseinanderdrängende
stimmt mit sich selber überein: eine gegenstrebige Harmonie wie
beim Bogen und bei der Leier’ (fr. 51), womit gesagt werden will, daß
beim Bogen erst durch die Spannung der Sehne die gesammelte Kraft-
auslösung erfolgt, wie bei der Leier erst durch die Spannung der Saiten
der volle Ton erklingt (vergessen wir nicht, daß unser Wort ‘Ton’ sich
letztlich aus dem griechischen tönos = ‘Spannung’ herleitet, und daß
der Gott Apollon ganz im Sinn des Heraklit Bogen und Leier als
Attribute trägt!). Friedrich Hölderlin war es, der in dem hen diapheron
heautöi des Heraklit, in der ‘Einheit, die sich mit sich selber entzweit’,
seinerseits das Wesen der Schönheit erblickt hat63 und dieser Erkennt-
63 Johs. Stroux, Harmonie als Wesenszug griechischen Denkens aO. (ob. Anm. 33)
S. 323 f. erinnert daran, ohne auf Heraklit einzugehen, daß überhaupt der Begriff
des Schönen, der nach Platon mit dem des Sittlichen eins ist, bei diesem wie bei
Aristoteles und der Stoa seine harmonische Natur in der richtigen Entsprechung
der Teile, der symmetria, zum Ausdruck bringt. Er weist dabei hin auf das stoische
kalön to teleiös symmetron (Chrysipp, Stoicorum Veterum Fragmenta III20,22); zu
deutsch ‘das Schöne ist vollendete Proportionalität’. Wichtiger noch ist in diesem
Zusammenhang die Quelle Platon, Philebos 64 E metriotes gar kai xymmetria