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Joseph Georg Wolf
Ordnung’ seine eigene Wissenschaft zu rühmen; zugleich habe er
geglaubt, daß er seine auctoritas vor Abnützung bewahren und unge-
schmälert für den Augenblick erhalten müsse, in dem der Staat seines
Rats bedürfe. Quod hodie venit: dazu sei es heute gekommen.
(a) Wir sehen: Cassius spielt den Fall hoch. Das Vorhaben, die Sklaven
straffrei zu stellen, ist für ihn ein Angriff auf die von den Vätern
ererbte Rechtsordnung, so unerhört, daß er seine bisher geübte
Zurückhaltung aufgeben muß, um die ‘alte Ordnung’ zu verteidigen.59
Daß sie erhaltenswert ist, versteht sich jedoch nicht von selbst60 und
wird darum von Cassius begründet mit der persönlichen Überzeugung
eines allgemeinen Niedergangs.61 Die Form des Bekenntnisses ent-
spricht dem Erfordernis der Selbstdarstellung des Redners, und was er
als seine Überzeugung äußert, typisiert ihn als Konservativen. Diese
Selbstdarstellung könnte allerdings kaum undifferenzierter sein: die
Überzeugung, ‘daß früher alles besser war’, ist das simpelste Klischee
konservativer Gesinnung, ist sozusagen wörtlich die Alltagstheorie des
mos maiorum. Hier ist auch keine Ironie im Spiel.62 Im Gegenteil: die
konservatistische Konfession ist so unbedingt und total, ist so massiv,
daß sie fast karikierend wirkt.
59 Im exordium soll der Redner die Sympathie des Publikums für den Gegenstand der
Rede gewinnen: er soll den Hörer benevolum, attentum, docilem machen: Laus-
berg §§263, 266. Das attentum parare (Lausberg §§ 269f.; Martin 69f.; Fuhr-
mann 85) kann er erreichen, indem er seine Sache wichtig macht. Genau das tut
Cassius hier. Sein Mittel (Angriff auf den mos maiorum) ist nicht originell (vgl.
Rhet. Her. 1.4.7), geschickt aber die Verbindung mit seiner Selbstdarstellung, die
dem benevolum parare (Lausberg §§ 273 f.) dient; dazu nach A. 69.
60 Wie gerade die zahlreichen, gegen die instituta et leges maiorum gerichteten Anträge
zeigen. Für die Zeit Ciceros vgl. Roloff 316.
61 Vgl. Nörr (1983) 192 f. - O. Behrends, SZ 97 (1980) 454, nimmt an, daß Cassius
diese Überzeugung „seiner Schultradition verdankt“ (s. oben A. 37); sie entspreche
„ganz und gar dem stoischen Mythos der fortschreitenden Degeneration . .. der
Verhältnisse“. Der Verfallsglaube war indessen nicht spezifisch stoisch. Anderer-
seits bestimmte der Stoizismus in der ersten Kaiserzeit weithin die Lebens- und
Weltanschauung der gebildeten Schichten. - Die römische Jurisprudenz hat für die
Einteilung der Sachen Begriffe der Körperlehre der stoischen Physik verwendet
(immer noch grundlegend Göppert, Über einheitliche, zusammengesetzte und
Gesamt-Sachen nach röm. Recht [1871]). An der Rezeption dieser Begriffe war
Cassius beteiligt: Pomponius D 41.1.27.2, Paulus D 6.1.23.5. Das beweist aber nur,
daß er die stoische Naturlehre gekannt hat. Tatsächlich gehörte ihre Kenntnis seit
der augusteischen Zeit zur allgemeinen Bildung. Den Stoikern zugezählt wird Cas-
sius auch von Cizek (A. 32) 186, 196 f.
62 Anders Nörr (1983) 193, 202, 204.
Joseph Georg Wolf
Ordnung’ seine eigene Wissenschaft zu rühmen; zugleich habe er
geglaubt, daß er seine auctoritas vor Abnützung bewahren und unge-
schmälert für den Augenblick erhalten müsse, in dem der Staat seines
Rats bedürfe. Quod hodie venit: dazu sei es heute gekommen.
(a) Wir sehen: Cassius spielt den Fall hoch. Das Vorhaben, die Sklaven
straffrei zu stellen, ist für ihn ein Angriff auf die von den Vätern
ererbte Rechtsordnung, so unerhört, daß er seine bisher geübte
Zurückhaltung aufgeben muß, um die ‘alte Ordnung’ zu verteidigen.59
Daß sie erhaltenswert ist, versteht sich jedoch nicht von selbst60 und
wird darum von Cassius begründet mit der persönlichen Überzeugung
eines allgemeinen Niedergangs.61 Die Form des Bekenntnisses ent-
spricht dem Erfordernis der Selbstdarstellung des Redners, und was er
als seine Überzeugung äußert, typisiert ihn als Konservativen. Diese
Selbstdarstellung könnte allerdings kaum undifferenzierter sein: die
Überzeugung, ‘daß früher alles besser war’, ist das simpelste Klischee
konservativer Gesinnung, ist sozusagen wörtlich die Alltagstheorie des
mos maiorum. Hier ist auch keine Ironie im Spiel.62 Im Gegenteil: die
konservatistische Konfession ist so unbedingt und total, ist so massiv,
daß sie fast karikierend wirkt.
59 Im exordium soll der Redner die Sympathie des Publikums für den Gegenstand der
Rede gewinnen: er soll den Hörer benevolum, attentum, docilem machen: Laus-
berg §§263, 266. Das attentum parare (Lausberg §§ 269f.; Martin 69f.; Fuhr-
mann 85) kann er erreichen, indem er seine Sache wichtig macht. Genau das tut
Cassius hier. Sein Mittel (Angriff auf den mos maiorum) ist nicht originell (vgl.
Rhet. Her. 1.4.7), geschickt aber die Verbindung mit seiner Selbstdarstellung, die
dem benevolum parare (Lausberg §§ 273 f.) dient; dazu nach A. 69.
60 Wie gerade die zahlreichen, gegen die instituta et leges maiorum gerichteten Anträge
zeigen. Für die Zeit Ciceros vgl. Roloff 316.
61 Vgl. Nörr (1983) 192 f. - O. Behrends, SZ 97 (1980) 454, nimmt an, daß Cassius
diese Überzeugung „seiner Schultradition verdankt“ (s. oben A. 37); sie entspreche
„ganz und gar dem stoischen Mythos der fortschreitenden Degeneration . .. der
Verhältnisse“. Der Verfallsglaube war indessen nicht spezifisch stoisch. Anderer-
seits bestimmte der Stoizismus in der ersten Kaiserzeit weithin die Lebens- und
Weltanschauung der gebildeten Schichten. - Die römische Jurisprudenz hat für die
Einteilung der Sachen Begriffe der Körperlehre der stoischen Physik verwendet
(immer noch grundlegend Göppert, Über einheitliche, zusammengesetzte und
Gesamt-Sachen nach röm. Recht [1871]). An der Rezeption dieser Begriffe war
Cassius beteiligt: Pomponius D 41.1.27.2, Paulus D 6.1.23.5. Das beweist aber nur,
daß er die stoische Naturlehre gekannt hat. Tatsächlich gehörte ihre Kenntnis seit
der augusteischen Zeit zur allgemeinen Bildung. Den Stoikern zugezählt wird Cas-
sius auch von Cizek (A. 32) 186, 196 f.
62 Anders Nörr (1983) 193, 202, 204.