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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 1. Abhandlung): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen: is fecit cui prodest; vorgetragen am 21. April 1990 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48161#0018
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Wolfgang Raible

Es handelt sich um einen auf Papyros geschriebenen Passus aus dem
Omega der Ilias.4 Geschrieben ist er in der typischen Buch-Unziale,
d.h. in einer Majuskelschrift und nicht etwa in der natürlich auch exi-
stierenden Kursivschrift. Im Vergleich zur Kursive, in der beispiels-
weise Kaufleute Verträge redigierten5, ist er sogar relativ leicht les-
bar. Dennoch hat jeder, der einen solchen Text lesen soll, Probleme:
solche Texte sind so schwer zu lesen, daß sie laut gelesen werden
müssen.
Weil die menschliche Rede linear ist, weil in der Rede stets Laut auf
Laut, Wort auf Wort, Satz auf Satz folgen muß, besitzen wir im Bereich
der akustischen Wahrnehmung eine bemerkenswerte Fähigkeit zur
Speicherung ausgedehnter Einheiten im Immediatgedächtnis. Jeder
Satz muß hier so lange präsent gehalten werden, bis wir ihn analysiert
haben. Scriptio continua stellt nun besondere Anforderungen an die vi-
suelle Dekodierung insofern, als wir die richtigen Buchstabengruppen
erst abgrenzen müssen. Die typischen Saccaden der Augen sind beim
Lesen von Scriptio continua dementsprechend wesentlich kleiner, unru-
higer und rascher als bei Texten in Scriptio discontinua, wo der Leser
sich mit wenigen Fixierungen pro Zeile begnügen kann. Weiterhin fällt
uns die visuelle Speicherung der erkannten Einheiten wesentlich schwe-
rer. Wir nehmen deshalb, indem wir laut dekodieren, den akustischen
Speicher - und damit einen zweiten „Kanal“ - zu Hilfe und behalten so
akustisch den im auditiven Bereich selbstverständlichen Überblick über
die zu analysierende Kette von Buchstaben. Vor allem haben wir durch
die Übersetzung der Buchstabenkette in eine Lautkette einen direkten
Zugang zu unserem „semantischen Speicher“.6
Es ist klar, daß man vor allem solche Texte in Scriptio continua, die
man schon gut kennt, auch leise lesen kann. Dennoch sind seltene Aus-
nahmen leisen Lesens in der Antike von Zeitgenossen als Sonderfälle
bemerkt und teilweise namentlich überliefert worden. Das klassische
Beispiel ist Augustins Staunen über den leise lesenden Ambrosius von
Mailand:
Sed cum legebat, oculi ducebantur per paginas et cor intellec-
tum rimebatur, vox autem et lingua quiescebant. Saepe, cum
4 Papyrus Bankes, Britisches Museum Pap. Nr. 114. Der Text ist nach einer photogra-
phischen Reproduktion aus Laum (1928) vom Verfasser geschrieben. Er gibt nur das
Prinzip wieder, ist also nicht als Faksimile zu verstehen.
5 Vgl. Friedrich (1966).
6 Vgl. hierzu auch Saenger (1989:945ff.).
 
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