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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 1. Abhandlung): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen: is fecit cui prodest; vorgetragen am 21. April 1990 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48161#0045
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Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen

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- Eine andere Art der Abweichung vom Prinzip ,Schreibe, wie du
sprichst4 ergibt sich durch die Lesehilfen, die nach und nach einge-
führt werden. Hier geht es um die Markierung von Wortgrenzen,
die in verschiedener Weise realisiert werden kann. Es geht dann in
einem nächsten Schritt um die Markierung größerer syntaktischer
Einheiten. Parallel dazu kann sich das entwickeln, was in der deut-
schen Orthographie sehr ausgeprägt ist: das morphologisch-se-
mantische bzw., vielleicht noch stärker, das silbische Prinzip. Da-
bei werden gleiche morphologisch-semantische Einheiten gleich
oder ähnlich geschrieben, obwohl sie von der Lautung her in ver-
schiedenen Kontexten verschieden sein müßten (Baz/m - Bäzzme
statt eines lautlich eher passenden Bozme. Untersuchungen von
Peter Eisenberg machen ein starkes silbisches Prinzip deutlich: Sil-
ben werden so geschrieben, daß sie optisch, speziell durch konso-
nantische Anfänge, als Silben zu erkennen sind (Beispiel ,se-hen4,
,ge-hen‘, wo, morphologisch gesehen, ,se[h]-en4, ,ge[h]-en‘ ge-
trennt werden müßte48).
In Ansätzen ist das morphologisch-semantische Prinzip schon in
der lateinischen Scripta vorhanden. Es ist z. B. auffällig, daß in der
ganzen Spätantike hartnäckig die phonetische Verschleifung zwi-
schen Präposition und Lexem nicht notiert wird; man schreibt also
,in-ludere‘ und nicht ,illudere4, ,ad-petere‘ und nicht ,appetere4
usw. Ähnliches gilt, wenn in metrisch gebundenen Texten die me-
trisch notwendige Verschleifung von Wörtern nicht wiedergege-
ben wird, sondern die vollen Wortformen notiert werden.49 Die
Schreibsysteme mancher Sprachen gehen noch weiter und heben
bestimmte Wortarten durch eine bestimmte Graphie hervor, bei-
spielsweise durch Majuskel am Anfang.50
die Suche hier leicht. - VgL zur Entwicklung der altfranzösischen Scripta Gossen
(1967).
48 VgL Eisenberg (1989).
49 Auffällig ist der Gebrauch der apices und der I longa zur Markierung der Vokalquanti-
tät in lateinischen Inschriften. Quintilian (Institutio oratoria 1,7,2) will sie nur zulassen,
wenn sie zur Vermeidung von Zweideutigkeiten dienen („cum eadem littera alium at-
que alium intellectum, prout correpta vel producta, facit“). Interessanterweise trifft
dies in der Praxis kaum je zu. „On peut alors penser ä une image graphique des mots
usuels et importants, ä une tradition orthographique du type presque ,hieroglyphique‘:
la part majoritaire des initiales et des finales sembient repondre ä un souci de cadrage
qui excede souvent le mot et concerne la ligne ou le paragraphe“ (Flobert 1990:107).
50 Die deutsche Schrift ist nicht die einzige, die eine bestimmte Wortart hervorhebt. Die
Schrift einer der orientalischen Hochkulturen, die elamitische Schrift, benutzte einen
 
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