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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 1. Abhandlung): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen: is fecit cui prodest; vorgetragen am 21. April 1990 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48161#0046
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Wolfgang Raible

3. Das orthographische Prinzip ,Schreibe, wie du sprichst1 hat als Kor-
relat das Prinzip ,Lies, indem du sprichst4. Das sukzessive Abwei-
chen vom orthographischen Prinzip ,Schreibe, wie du sprichst4, die
sukzessive Einführung von Lesehilfen, hat dazu geführt, daß sich in
den auf der Lateinschrift basierenden Scriptae etwa ab dem 13. Jahr-
hundert allgemein die Praxis des leisen Lesens verbreiten kann. (Es
ist klar, daß Anfänger nach wie vor laut lesen.) In der Regel folgt
jedoch das leise Lesen nach wie vor linear, und mit den typischen
Saccaden der Augen, den Zeilen. Die meisten der heutigen Leser
lesen dabei intern leise mit. Die Vielzahl der Leseerleichterungen,
die unsere modernen Orthographien enthalten, gestatten jedoch ei-
nen weiteren Schritt in der Entwicklung des Lesens: das sogenannte
Schneilesen, bei dem das Auge nicht mehr Zeile für Zeile abtastet,
sondern, wie sich an den Saccaden der Augen zeigen läßt, mit charak-
teristischen Vor- und Rückwärtsbewegungen gewissermaßen quer
über die Seiten geht. Diese Kunst hat zwei Voraussetzungen, eine
text- und eine leserzentrierte. Der Text muß sich in der seit der Scho-
lastik möglichen leserfreundlichen Form und einer genormten Or-
thographie der Wörter präsentieren. Der Leser muß, wie die Schnell-
lese-Lehren betonen, rigoros das interne leise Mitlesen abstellen. Er
darf die Wörter nicht mehr hören.51
4. Die Zahl derer, die eine Sprache lesen und schreiben können, ist ein
Faktor, der eine Entwicklung beschleunigen oder retardieren kann.
Die griechische Buchschrift hat sich sehr langsam verändert, weil die
Zahl der Leser verhältnismäßig klein war, bzw. die öffentliche
schriftliche Kommunikation im Alltagsleben noch keine überra-
gende Rolle spielte. Zudem las und schrieb man häufig nicht selbst,
man ließ Sklaven lesen und scheiben.
Ähnliches gilt für die Lateinschrift im Mittelalter. Die Neuerungen,
die sich in der Scholastik durchgesetzt haben, haben praktisch alle
ihre Vorläufer in früheren Texten, sie wurden jedoch noch nicht All-
gemeingut.52 Erst die Renaissance des Mittelalters im 12. Jahrhun-
dert mit dem Aufblühen der Schriftkultur in den Schulen und einer
zunehmenden Laien-Schriftlichkeit führte zu einer raschen und blei-
benden Veränderung in der Gestaltung der Texte.
waagrechten, später einen senkrechten Keil zur Anzeige zunächst von Ortsnamen,
dann von Nomina im allgemeinen (Friedrich 1966:52). Entstanden ist diese Markie-
rung aus einem Nominal-Klassifikator.
51 Vgl. Richaudeau (1969), Günther (1988).
52 Vgl. hierzu u.a. Rouse & Rouse (1982).
 
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