Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen
37
Hat sich eine Graphie einmal durchgesetzt, so gilt, daß die Chance
einer Änderung um so geringer wird, je größer die Zahl der Leser ist,
die die Sprache in ihrer augenblicklichen Scripta beherrschen. Ein
extremes Beispiel ist das heutige Englische. Während im Französi-
schen die Grapheme ohne weiteres in richtige Lautungen zu überset-
zen sind, die Laute freilich nicht immer in Grapheme, funktioniert im
Englischen die Graphem-Laut-Korrespondenz in beiden Richtungen
nur selten. Es könnte durchaus sein, daß sich das Englische - über
eine Alphabet-Schrift - zu einer neuen Ideogramm-Schrift entwik-
kelt.
5. Ein Schreibsystem, das das richtige Verstehen fördern und einen gro-
ßen Kommunikationsradius sichern soll, entwickelt sich mit einer ge-
wissen inneren Logik zu einem Schreibsystem, das die Interessen des
Lesenden höher wertet als diejenigen des Schreibenden. Die Erfaß-
barkeit des Geschriebenen muß Vorrang vor der reinen Abbildfunk-
tion haben.53 Der unterschiedliche Entwicklungsstand der lateini-
schen juristischen Epigraphik im Vergleich zu den gleichzeitig
geschriebenen literarischen Texten zeigt dieses Prinzip der Ausrich-
tung auf den Leser.
Angesichts der Mühe, die solche weiterentwickelten Orthogra-
phiesysteme - auch wegen der Traditionslast (sie kann z.B. durch
Lautwandel bedingt sein), die sie mitschleppen - für den Schreiben-
den bedeuten, ist es charakteristisch, daß vor allem seit der Erfin-
dung des Buchdrucks periodisch der Ruf nach Rechtschreibreformen
erhoben wird. Und es ist auch charakteristisch, daß die dabei ge-
machten Vorschläge vorzugsweise solche aus der Perspektive des
Schulmeisters sind. Dies ist im Frankreich des 16. Jahrhunderts kaum
anders als im Deutschland des 19. oder 20. Jahrhunderts.54 Dabei will
man im Prinzip immer zu einer älteren oder sogar zur ältesten Stufe
der Orthographie zurück, nämlich vorzugsweise auf die Wortebene
53 Vgl. Weinrich (1989). Mit erfreulicher Klarheit zielt die umfangreiche Arbeit von Utz
Maas (1989) - eine Osnabrücker Vorlesung aus dem Wintersemester 1987/1988 - in die
gleiche Richtung.
54 Die Schulmeister-Perspektive vertritt im 16. Jahrhundert in Frankreich z.B. Honorat
Rambaud, dessen völlig neues Alphabet mit enger Phonem-Graphem-Zuordnung aus
langjähriger Unterrichtspraxis entstand. Die Leser-Perspektive vertritt der Grammati-
ker Louis Meigret. - Vgl. zu Meigret Citton/Wyss (1989:52ff.) („Le primat de la lec-
ture“) und zur Orthographiediskussion des 16. Jahrhunderts generell Nina Catach
(1968). Hier geht es freilich auch noch darum, daß die Orthographie des Französischen
im 16. Jahrhundert, unter den Bedingungen des Buchdrucks, erst einmal vereinheit-
licht werden muß, nicht um die Reformation einer schon etablierten Orthographie.
37
Hat sich eine Graphie einmal durchgesetzt, so gilt, daß die Chance
einer Änderung um so geringer wird, je größer die Zahl der Leser ist,
die die Sprache in ihrer augenblicklichen Scripta beherrschen. Ein
extremes Beispiel ist das heutige Englische. Während im Französi-
schen die Grapheme ohne weiteres in richtige Lautungen zu überset-
zen sind, die Laute freilich nicht immer in Grapheme, funktioniert im
Englischen die Graphem-Laut-Korrespondenz in beiden Richtungen
nur selten. Es könnte durchaus sein, daß sich das Englische - über
eine Alphabet-Schrift - zu einer neuen Ideogramm-Schrift entwik-
kelt.
5. Ein Schreibsystem, das das richtige Verstehen fördern und einen gro-
ßen Kommunikationsradius sichern soll, entwickelt sich mit einer ge-
wissen inneren Logik zu einem Schreibsystem, das die Interessen des
Lesenden höher wertet als diejenigen des Schreibenden. Die Erfaß-
barkeit des Geschriebenen muß Vorrang vor der reinen Abbildfunk-
tion haben.53 Der unterschiedliche Entwicklungsstand der lateini-
schen juristischen Epigraphik im Vergleich zu den gleichzeitig
geschriebenen literarischen Texten zeigt dieses Prinzip der Ausrich-
tung auf den Leser.
Angesichts der Mühe, die solche weiterentwickelten Orthogra-
phiesysteme - auch wegen der Traditionslast (sie kann z.B. durch
Lautwandel bedingt sein), die sie mitschleppen - für den Schreiben-
den bedeuten, ist es charakteristisch, daß vor allem seit der Erfin-
dung des Buchdrucks periodisch der Ruf nach Rechtschreibreformen
erhoben wird. Und es ist auch charakteristisch, daß die dabei ge-
machten Vorschläge vorzugsweise solche aus der Perspektive des
Schulmeisters sind. Dies ist im Frankreich des 16. Jahrhunderts kaum
anders als im Deutschland des 19. oder 20. Jahrhunderts.54 Dabei will
man im Prinzip immer zu einer älteren oder sogar zur ältesten Stufe
der Orthographie zurück, nämlich vorzugsweise auf die Wortebene
53 Vgl. Weinrich (1989). Mit erfreulicher Klarheit zielt die umfangreiche Arbeit von Utz
Maas (1989) - eine Osnabrücker Vorlesung aus dem Wintersemester 1987/1988 - in die
gleiche Richtung.
54 Die Schulmeister-Perspektive vertritt im 16. Jahrhundert in Frankreich z.B. Honorat
Rambaud, dessen völlig neues Alphabet mit enger Phonem-Graphem-Zuordnung aus
langjähriger Unterrichtspraxis entstand. Die Leser-Perspektive vertritt der Grammati-
ker Louis Meigret. - Vgl. zu Meigret Citton/Wyss (1989:52ff.) („Le primat de la lec-
ture“) und zur Orthographiediskussion des 16. Jahrhunderts generell Nina Catach
(1968). Hier geht es freilich auch noch darum, daß die Orthographie des Französischen
im 16. Jahrhundert, unter den Bedingungen des Buchdrucks, erst einmal vereinheit-
licht werden muß, nicht um die Reformation einer schon etablierten Orthographie.