Metadaten

Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 1. Abhandlung): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen: is fecit cui prodest; vorgetragen am 21. April 1990 — Heidelberg: Winter, 1991

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48161#0048
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
38

Wolfgang Raible

und dort in die Nähe des Ideals ,Schreibe, wie du sprichst4.55 Aus der
Perspektive des Volksschullehrers mag dies eine natürliche Position
sein. Aus der Sicht einer Kultur mit schriftlicher Massenkommunika-
tion ist dieser Standpunkt dagegen sicher etwas einseitig. Die innere
Konsequenz, mit der sich Alphabetschrift-Systeme weiterentwickeln
(also vor allem vom Prinzip der reinen Abbildung der Lautseite weg-
und zu Schreibungen mit ideogrammartigen Elementen hinentwik-
keln), wird dabei leicht übersehen. Es ist eine Entwicklung, die von
der unmittelbar phonetisch-auditiven Dekodierung wegführt und
eine primäre Erfassung durch das Auge zum Ziel hat.

55 Daß dies nicht geht, hat schon Jost Winteler, der eigentliche Entdecker der Phonolo-
gie, in seiner Leipziger Dissertation von 1876 deutlich ausgesprochen. Es geht im nach-
folgenden Zusammenhang zunächst darum, daß sich derjenige, der Lautsysteme analy-
siert, freimachen muß vom Schriftbild der Sprache: „Dabei muss ich betonen, dass der
Natur der Sache nach eine solche Reformation nicht der Schreibung der Gemeinspra-
chen gelten kann, sondern lediglich der Transscription behufs wissenschaftlicher
Zwecke. Denn diese Reformation steuert auf das Ziel los, möglichst genau die gespro-
chenen Laute zu repräsentiren. Die Schreibung einer Gemeinsprache kann aber diesen
Zweck schon deswegen nicht verfolgen, weil man es als geradezu unmöglich bezeich-
nen muss, dass eine Gemeinsprache innerhalb ihres ganzen Gebiets je völlig gleich
gesprochen werde. Ihre Schreibung muss also stets einen gewissen Spielraum für die
Aussprache offen lassen. Ausserdem könnte eine genaue phonetische Schreibung der
Gemeinsprache doch nur für den, der die Sprache zu erlernen hat, oder für den Sprach-
forscher berechnet sein. Aber der Sprachforscher, vom Philologen abgesehen, dem die
Schreibung aber als solchem ein untergeordneter Faktor ist, wird sich nicht an die Ge-
meinsprache halten, sondern an die natürlichen Kinder der Sprachentwicklung, die
Mundarten. Auf den Lernenden aber kann die Schreibung einer Gemeinsprache doch
nur zum kleinsten Theile Rücksicht nehmen. Sie gilt ja in erster Linie denen, die die
Sprache können, die durch Vermittlung der Schrift nicht zur Erfassung der Lautwerthe,
sondern der Bedeutungswerthe der durch die Schrift angedeuteten Lautbilder gelan-
gen wollen. Dies ist der oberste Gesichtspunkt für die Schreibung einer Gemeinsprache
und nach diesem Zweck bemessen sich die graphischen Mittel. So ist es beispielsweise
für sie nicht Selbstzweck, sondern Utilitätsrücksicht, wenn sie im ganzen und grossen
überhaupt phonetisch ist.“ (1876:88). Winteler fügt hinzu, „auf Grund des nämlichen
Utilitätsprinzips“ habe die Schreibung der Gemeinsprachen „dem im allgemeinen
adoptirten Lautschriftprinzip später wieder Elemente der ideologischen [also: Ideo-
gramm-] Schreibung zugefügt, so die Trennung der Wörter [Wortabstände], den Ge-
brauch der Majuskeln neben Minuskeln und dgl.“ (1876:88f.).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften