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Ernst A. Schmidt
sten beiden Menschenerschaffungen, wenn wir und die Metamorpho-
sew-Menschen nur die aus Deucalion und Pyrrhas Steinen wären und nur
deren Charakteristik noch gültig wäre? Und wie ist denn die Menschheit
aus dem Lehm des Prometheus untergegangen? Von den Aussagen über
jenen Menschen soll nichts für uns und die Metamorphosen gelten? Wel-
cher bizarre historische Vollständigkeitswahn hätte Ovid gepackt, fol-
genlose Episoden der Menschheitsgeschichte zu erzählen? Dann: wel-
che Menschen sind in der Flut umgekommen, das Eiserne Geschlecht
oder die Gigantenblutmenschen oder beide? So daß es also in den Meta-
morphosen und heute keine Gigantenblutmenschen, keine Repräsen-
tanten Eiserner Zeit gäbe?12 Und zur zweiten Alternative: wie sollte sich
die Folge und Summe dreier urgeschichtlicher Menschheitswellen in den
Metamorphosen, in der Weltgeschichte, in der Gegenwart äußern?
Ich lese den Eingang der Metamorphosen als ihre Exposition. In den
Schöpfungsberichten wird neben der poetischen Herstellung des Gegen-
standes der Metamorphosen ihr Thema exponiert in einer die Vielfalt
der Verwandlungsgeschichten zusammenhaltenden und deutenden
komplexen moralistischen Anthropologie. Die Erzählung des Eingangs
ist thematisch komponiert, nicht historisch-chronologisch und nicht
kausal-prozessual, und erst aus dem Mit- und Gegeneinander der einzel-
nen Erzählungen baut sich das Menschenbild auf, das die Grundlage der
Dichtung bildet. In die Mitte dieser Exposition ist, ihren moralistischen
Charakter unterstreichend, das Strafgericht der Sintflut gestellt; und
dieser menschheitlichen Strafe entspricht, ein Individuum treffend, die
Metamorphose Lycaons, so daß bereits in der Exposition einmal eine
Verwandlung und eine allgemeine Aussage über die Menschheit einan-
der so spiegeln wie Exposition und übriges Werk im ganzen.
12 So Herter (1982), Concilium Deorum, S. 109: Weltalter „in einer weit zurückliegenden
Vergangenheit. [. . .] Wer die Schilderung der Verderbnis des eisernen Geschlechts [. . .]
auf die Gegenwart bezieht, müßte eigentlich annehmen, daß von den Eisernen einige
nach der Sintflut in unverbesserlichem Zustand zurückgeblieben wären“; S. 115: mit
„der Abfolge der Zeitalter [. . .] kommt (Ovid) gar nicht in die Gegenwart, denn von den
Eisernen war ja ebensowenig jemand übrig geblieben wie von den Blutgeborenen, so
daß ihre Verbrechen die postdiluviale Menschheit nicht mehr belasteten.“
Ernst A. Schmidt
sten beiden Menschenerschaffungen, wenn wir und die Metamorpho-
sew-Menschen nur die aus Deucalion und Pyrrhas Steinen wären und nur
deren Charakteristik noch gültig wäre? Und wie ist denn die Menschheit
aus dem Lehm des Prometheus untergegangen? Von den Aussagen über
jenen Menschen soll nichts für uns und die Metamorphosen gelten? Wel-
cher bizarre historische Vollständigkeitswahn hätte Ovid gepackt, fol-
genlose Episoden der Menschheitsgeschichte zu erzählen? Dann: wel-
che Menschen sind in der Flut umgekommen, das Eiserne Geschlecht
oder die Gigantenblutmenschen oder beide? So daß es also in den Meta-
morphosen und heute keine Gigantenblutmenschen, keine Repräsen-
tanten Eiserner Zeit gäbe?12 Und zur zweiten Alternative: wie sollte sich
die Folge und Summe dreier urgeschichtlicher Menschheitswellen in den
Metamorphosen, in der Weltgeschichte, in der Gegenwart äußern?
Ich lese den Eingang der Metamorphosen als ihre Exposition. In den
Schöpfungsberichten wird neben der poetischen Herstellung des Gegen-
standes der Metamorphosen ihr Thema exponiert in einer die Vielfalt
der Verwandlungsgeschichten zusammenhaltenden und deutenden
komplexen moralistischen Anthropologie. Die Erzählung des Eingangs
ist thematisch komponiert, nicht historisch-chronologisch und nicht
kausal-prozessual, und erst aus dem Mit- und Gegeneinander der einzel-
nen Erzählungen baut sich das Menschenbild auf, das die Grundlage der
Dichtung bildet. In die Mitte dieser Exposition ist, ihren moralistischen
Charakter unterstreichend, das Strafgericht der Sintflut gestellt; und
dieser menschheitlichen Strafe entspricht, ein Individuum treffend, die
Metamorphose Lycaons, so daß bereits in der Exposition einmal eine
Verwandlung und eine allgemeine Aussage über die Menschheit einan-
der so spiegeln wie Exposition und übriges Werk im ganzen.
12 So Herter (1982), Concilium Deorum, S. 109: Weltalter „in einer weit zurückliegenden
Vergangenheit. [. . .] Wer die Schilderung der Verderbnis des eisernen Geschlechts [. . .]
auf die Gegenwart bezieht, müßte eigentlich annehmen, daß von den Eisernen einige
nach der Sintflut in unverbesserlichem Zustand zurückgeblieben wären“; S. 115: mit
„der Abfolge der Zeitalter [. . .] kommt (Ovid) gar nicht in die Gegenwart, denn von den
Eisernen war ja ebensowenig jemand übrig geblieben wie von den Blutgeborenen, so
daß ihre Verbrechen die postdiluviale Menschheit nicht mehr belasteten.“